Mirad 03 - Das Wasser von Silmao
dich einmal mehr daran zu erinnern, dass die Alte Gabe auch in dir wirkt, selbst wenn du dir dessen nicht immer bewusst sein magst. Du hast schon oft instinktiv das Richtige getan. Deshalb mach dir keine Sorgen über das, was dir jetzt bevorsteht. Zweifle nicht an dir. Tu einfach so, als wäre es bereits geschehen, und es wird geschehen.«
Er betrachtete nachdenklich Múrias müdes Gesicht. Der Ausdruck darin war der einer besorgten Mutter. Aus einem Impuls heraus küsste er sie auf die Wange.
»Wofür war das?«, fragte sie lächelnd.
»Um dir zu sagen, dass ich dich liebe, Inimai. Und dass ich dir für alles danke, was du seit unserem ersten Zusammentreffen für Twikus und mich getan hast. Vielleicht werde ich mich in nächster Zeit sehr viel um meine Mutter kümmern müssen. Du sollst dann nicht denken, ich hätte dich vergessen.«
Sie lachte. »Ich bin nicht so schnell eingeschnappt wie Nisrah.«
Das habe ich gehört!, meldete sich der Netzling.
Ergil schöpfte noch einmal tief Atem. Dann sagte er: »Lasst uns beginnen, meine Lieben.«
Diesmal glitt er mit einer geradezu Schwindel erregenden Leichtigkeit durch den Faltenwurf von Zeit und Raum. Er hangelte sich, ausgehend vom Knochenturm der Gegenwart, bis zu jener fernen Vergangenheit zurück, in der die Sirilim ihren Palast in der Zwischenwelt versteckt hatten. Von diesem Ereignis aus wanderte sein Sinn in einer anderen Falte wieder zurück bis zu dem Ort, der seiner Mutter als Refugium diente. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er in Bethgan, das »Haus des Gartens«, eintauchte.
Und dann war er in Vanias Pavillon.
Im ersten Moment sah alles unverändert aus: die gebauschten, doch erstarrten Vorhänge, die siechende Königin auf ihrem Diwan. Aber beim zweiten Hinsehen bemerkte Ergil dann doch Veränderungen. Vor allem im Gesicht seiner Mutter. Es war so blass, als sei alles Leben aus ihr gewichen. Kam er zu spät?
Er spürte, wie sich sein Herz in einen harten Knoten verwandelte und ihm die Verzweiflung die Kehle zuschnürte. Schon als kleiner Junge hatte er von seiner Mutter geträumt. Immer war sie ihm nahe. Er liebte sie. Liebte sie so sehr!
Tränen liefen über seine Wangen. Er spürte die warme Flut auf dem Gesicht, obwohl der größte Teil seines Geistes in anderen Sphären schwebte. Als er sich unbewusst mit der Zunge über die Lippen fuhr, schmeckte er sie sogar. Bitter? Sollten sie nicht salzig sein? Die Verwunderung war nur ein flüchtiger Gedanke. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt.
Du gibst nicht auf, ehe du endgültig verloren hast!, befahl er sich. Was hatte Múria gesagt? Es stecke mehr in ihm, als er glaube? Zweifle nicht an dir. Tu einfach so, als wäre es bereits geschehen, und es wird geschehen. Er drängte den Kummer und die Bedenken an den Rand seines Bewusstseins, nahm alle Kraft zusammen, die ihm durch das Blut zweier Völker gegeben war, und umfasste im Geiste seine Mutter.
»Komm mit mir!«, sprach er in seiner und in der Zwischenwelt. Dann spürte er die Anstrengung, als er Vania ins Hier und Jetzt hinübertrug.
Múria öffnete die Augen.
Im Kaminzimmer entstand ein grünes Flimmern. Für einen Moment wurden zwischen der Bank und dem gegenüberstehenden Sessel lediglich die Umrisse eines Diwans erkennbar, auf dem eine Gestalt lag. Aber bald verdichtete sich das lichte Gebilde zu greifbarer Materie. Das leuchtende Grün wurde von blassen Farben verdrängt, dem Fliederton des Bettes, dem silbrigen Schimmer des langen duftigen Gewandes und dem fahlen Ton von Elfenbein im Gesicht der Königin.
Schwer atmend stemmte Ergil die Augenlider hoch. Seine Mutter lag direkt vor ihm. »Ist sie…?« Er wagte nicht, das Furchtbare auszusprechen.
Múria setzte sich neben Vania auf den Diwan und fühlte ihren Puls. »Sie ist noch warm.«
»Und das heißt?«
Die Heilerin hielt einen kleinen Spiegel unter die Nase der Königin, wartete einen Moment und schüttelte dann den Kopf.
»Sag etwas, Inimai! Ist sie tot?«, schrie Ergil. Jetzt rannen ihm die Tränen wie Sturzbäche über die Wangen.
Er fühlte sich von Múria auf eine unerklärlich fragende Art angesehen, dann blinzelte sie und schüttelte den Kopf. »Sie ist eine Sirila. Solange sie noch warm ist, steckt noch Lebenskraft in ihr. Hilf mir, Ergil. Schnell! Nimm ihren Kopf und öffne ihren Mund!«
Schnell lief er um den Diwan herum, hob Vanias Oberkörper an und bettete ihn an seine Brust. Zärtlich strich er über ihre blonden Locken. Aber nur ein Mal. Dann
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