Misterioso
Zielstrebigkeit. »3/12/1993« stand in dünner Bleistiftschrift auf der Rückseite.
An der Wand gegenüber der Stickerei hing eine Dartscheibe mit drei Pfeilen. Chavez war mit wenigen Schritten dort und zog einen Pfeil heraus. Fasziniert betrachtete er den seltsam geformten Pfeilrumpf mit der ungewöhnlich langen Spitze.
»Sehen Dartpfeile immer so aus?« fragte er.
Lena Lundberg sah ihn mit ihren grünen Augen tieftraurig an. Sie brauchte eine Weile, bis sie auf das neue Thema umgeschaltet hatte.
»Er ließ sich Sonderanfertigungen aus einem Laden in Stockholm schicken. ›Bogen und Pfeile‹ heißt er, soviel ich weiß. Irgendwo in der Altstadt. Ein Dartpfeil darf dreißig Zentimeter lang sein, hat er mir erzählt, die eine Hälfte Spitze und Rumpf, die andere Hälfte Flights. Er hat so lange experimentiert, bis er den für ihn passenden Schwerpunkt gefunden hatte. Das waren diese Pfeile mit der langen Spitze. Die sehen wirklich komisch aus.«
»War er Mitglied in einem Dartklub?« fragte Chavez und wog den Pfeil in der Hand, um den Schwerpunkt zu lokalisieren.
»Ja, in einem Klub in der Stadt. Also in Växjö. Dort war er auch an dem Abend, als er so übel zugerichtet wurde. Er hatte irgendeinen Rekord gebrochen und wollte noch nicht nach Hause, als der Klub schloss. Also ist er in diese andere Kneipe gegangen und hat ein bisschen Präzisionstraining gemacht. Normalerweise geht er nicht in Kneipen.«
»Haben Sie manchmal mit ihm gespielt?« fragte Chavez weiter und warf den Pfeil auf die Scheibe. Er prallte ab, fiel auf den Boden und blieb im Parkett stecken. »Entschuldigung«, sagte Chavez, zog den Pfeil heraus und begutachtete das kleine Loch im Holzfußboden.
Es war kaum zu sehen.
»Wir haben ab und zu mal zusammen gespielt«, sagte Lena Lundberg, ohne Chavez’ linkischen Versuchen Beachtung zu schenken. »Aus Spaß. Obwohl es selten Spaß machte. Er gab mir immer einen Vorsprung, den er am Ende jedes Mal einholte. Er konnte nicht verlieren. Bei dem Spiel zählt man von Fünfhunderteins rückwärts bis Null. Mit dem letzten Wurf, der ein Double sein muss, muss man exakt null Punkte erreichen, nicht drüber und nicht drunter.«
Paul Hjelm saß im Hotelsessel und ließ das dritte Foto auf sich wirken. Es war das aktuellste Bild von Göran Andersson, aufgenommen ein paar Wochen vor dem Vorfall in der Bank. Er hatte einen Arm um Lenas Schulten gelegt und lachte in die Kamera. Sie standen im Schnee vor dem Haus und hatten gerade eine Schneelaterne gebaut, in der ein Teelicht brannte. Seine Wangen waren gerötet, und er sah glücklich aus. Trotzdem lag etwas Zurückhaltendes in seinen tiefblauen Augen.
Hjelm kannte diesen Blick nur zu gut.
Die Scheu eines stillen Kindes.
»Und er weiß noch nichts von Ihrer Schwangerschaft?« hatte Hjelm gefragt.
»Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, es ihm zu erzählen. Aber nach seiner Kündigung war er irgendwie nicht er selbst. Sie kam per Post, aus Stockholm, in einem gewöhnlichen braunen Umschlag. Nicht einmal sein hiesiger Chef, Albert Josephson, wusste davon. Als er den Umschlag geöffnet hatte, konnte ich richtig zusehen, wie etwas in seinem Blick erlosch. Vielleicht habe ich da schon gewusst, dass ich ihn verloren hatte.«
»Haben Sie seit seinem Verschwinden Kontakt zu ihm gehabt?«
»Am Morgen des fünfzehnten Februar ...«, sagte Lena, als blättere sie in einem inneren Kalender. »Nein, kein Kontakt. Ich weiß nicht, wo er ist und was er macht.«
Sie sah Hjelm so unvermittelt in die Augen, dass er ihrem Blick ausweichen musste.
»Was hat er eigentlich getan?«
»Wahrscheinlich nichts«, hatte Hjelm gelogen und sich elend gefühlt.
Jorge Chavez stand auf, streckte sich und sammelte die Fotos ein. Er zögerte einen kurzen Moment. »Sollten wir Hultin nicht doch informieren?«
»Lass sie noch eine Nacht bei den Lovisedalern sitzen«, sagte Hjelm erschöpft. »Dann wissen wir jedenfalls, dass dort nichts passiert.«
»Außerdem sollten wir wohl noch das Phantombild unseres werten Kollegen abwarten«, sagte Kerstin Holm und gähnte.
»Der die komplette Ermittlung aufgehalten hat«, ergänzte Chavez empört. »Wisst ihr was? Mir reicht es. Das ist eine gute Ausbeute für heute, wenn auch mit leicht bitterem Nachgeschmack ...«
Er legte die Fotos auf Hjelms Nachtschrank und verließ mit einem gigantischen Gähnen den Raum.
Kerstin lag noch immer auf dem Bett – müde und unerhört ... erotisch, dachte Hjelm. Er war nach wie vor unsicher, ob die
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