Moderne Piraten
es wieder fallen. Es war unmöglich, bei dem schönen Frühlingswetter hier stillzusitzen und zu lesen. Unwiderstehlich groß war der Drang hinauszustürmen in die sonnige Natur. Aber Rübesam hatte es verboten, Doktor Gransfeld hatte es verboten, und – Rudi sah es ein – sie hatten recht mit diesem Verbot. Er mußte im Hause bleiben. Doch irgendwie und anders als mit Lesen mußte er sich die Zeit vertreiben.
Unruhig lief er durch die Wohnung. Hier war das Herrenzimmer mit den Bücherregalen, dort das Eßzimmer, da die Schlafzimmer. Längst kannte er alle Räume bis in die letzten Winkel. Dort am Ende des Flurs lag noch ein Raum, die Spindenstube. In der war er noch nicht gewesen. Die Langeweile trieb ihn hinein.
Es war ein mittelgroßes Zimmer, an den Wänden standen mehrere geräumige Schränke. Einer davon in der Fensterecke, alt, ehrwürdig und schon ein wenig wacklig, erinnerte ihn an das Möbel von Tarantola in Port Said. Was mochte Herr Rübesam in diesem Schrankungetüm aufbewahren? Der Schlüssel steckte. Also war’s wohl nicht verboten, einmal nachzusehen.
Er öffnete die Schranktür. Ein scharfes Aroma schlug ihm entgegen. Offenbar benutzte der Chemiker besondere Mittel, um seine Kleider vor Motten zu schützen. Ein paarmal mußte Rudi kräftig niesen, dann hatte er sich daran gewöhnt.
»Wollen doch mal sehen, was Onkel Rübesam hier eigentlich hat! Hm – alte Röcke und Hosen. Da muß er aber noch jung und schlank gewesen sein, als er die getragen hat. Heute würde ihm das Zeug nicht mehr passen. Alle Wetter, ist das eine lange Tabakspfeife! Die geht ja knapp in den Schrank hinein! Hm, in der Ecke ist nichts mehr! Wollen mal in der andern nachsehen! – Ein Jagdanzug. Aha, deswegen der Büchsenschrank im Herrenzimmer! Der Anzug ist auch viel zu eng für ihn; der müßte mir ja ungefähr passen. Wollen’s doch mal versuchen!«
Schon während des Selbstgespräches begann er sich seiner Kleider zu entledigen und zog sich dafür die graugrüne Montur an.
»Großartig! Sitzt ja wie angegossen! Jetzt noch den richtigen Hut dazu! – Da hängt er ja. – So, Rudi, jetzt wollen wir uns einmal im Spiegel begucken!«
Er ging in das Herrenzimmer zurück und stellte sich vor den Spiegel. »Ah, gratuliere, Herr Forsteleve! Sie sehen ja vorzüglich aus! Andere Stiefel müßten eigentlich auch dazu da sein, hohe, gelbe Schaftstiefel, dann wäre die Sache erst richtig in Butter. Wollen noch mal nachsehen, Herr Oberförster!«
Mit militärischem Gruß verabschiedete er sich von dem Spiegel und ging zu dem Schrank zurück. Doch vergeblich suchte er nach Stiefeln von der Art, wie sie ihm vorschwebten. Dafür stieß er auf etwas anderes, das ihn sofort sehr interessierte.
»Oh, oh, Rudi, was mußt du hier sehen! Onkel Rübesam scheint ja früher mächtig auf Maskenbälle gegangen zu sein!« Er zog einen seidenen Domino und ein Türkenkostüm aus dem unerschöpflichen Schrank, betrachtete sie eine Weile und legte sie dann über eine Stuhllehne.
»Das müssen wir mal später probieren, wie uns das zu Gesicht steht. – Aber hier! Was hat er hier noch? Masken? Schnurr- und andere Bärte? Bartwachs, Kämme? Alle Wetter, das muß doch gleich mal vor dem Spiegel ausprobiert werden!«
Mit einem Frisierbeutel unter dem Arm, der sich unter Brüdern sehen lassen konnte, kehrte er in das Herrenzimmer zurück. Mit Wachs und Kamm und Schere begann er wie ein Barbier von Beruf zu arbeiten. —
Die Suppe in der Schüssel wurde kalt. Das Mundtuch in der Hand, lief Rübesam in größter Unruhe in der Wohnung hin und her. Besorgnis und Ärger zugleich malten sich in seinen Zügen.
Unbegreiflich, unerklärlich, wo der Junge geblieben war! Vergeblich hatte er in jedem Zimmer, in jedem Winkel nach ihm gesucht, als er aus dem Werk zurückkam. In der Wohnung war Rudi jedenfalls nicht, das stand nun einmal fest. Die einzig mögliche Erklärung war nur die, daß er das Haus trotz dem strengen Verbot verlassen hatte. Dagegen sprach aber wieder etwas anderes. Rudis ganze Garderobe war in der Wohnung; auch der Anzug, den er heute früh getragen hatte, lag im Schlafzimmer auf seinem Bett.
Verzweifelt fuhr sich Rübesam an den Kopf. In des Kuckucks Namen, was war denn geschehen? Im Hemd konnte der Bengel doch unmöglich ins Werk gelaufen sein. Erschöpft von der Aufregung warf sich der Chemiker in den Lehnstuhl am Fenster. Da lag noch aufgeschlagen ein Buch auf dem Tisch, in dem Rudi wohl gelesen hatte. Rübesam nahm es in die Hand.
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