Modesty Blaise 06: Die Lady macht Geschichten
andere Wahl. Ein Auto hupte und fuhr in einem Bogen um Modestys Škoda. Sie machte eine entschuldigende Handbewegung, startete den Motor und stellte ihn, sobald er ansprang, wieder ab. Der Chauffeur hatte mit seinem Herrn ein paar Worte gesprochen und ging jetzt um das Auto zum Kofferraum. Mit einem Anflug hoffnungsvoller Habgier fragte Willie auf deutsch:
«Kann ich Ihnen helfen?» Der Chauffeur blickte ihn ein wenig verwundert an. Als er begriff, daß Hilfsbereitschaft nicht das einzige Motiv war, nickte er gleichgültig und beugte sich herab, um den Kofferraum zu öffnen. Als er den Deckel hob, sah Modesty Willies Hand, die sich zum Schlag erhob, während sein Körper sie vor jedem vorübergehenden Fußgänger verbarg. Dann erstarrte er.
Sie konnte in den Kofferraum sehen, und der Kofferraum war leer. Kein Okubo.
Der Chauffeur begann das Reserverad abzuschrauben. Willie rieb sein Kinn und wandte den Kopf, so daß sein Blick sie streifte. Was jetzt? Sie warf den Kopf ein wenig zurück, startete den Škoda und fuhr weiter.
Sie bog in die Leipziger Straße ein. Ärger, Erleichterung und viele offene Fragen stürmten gleichzeitig auf sie ein.
Eine Stunde später lenkte Willie den Lieferwagen in Tollers Hof. Modesty wartete in der großen Garage auf ihn und sagte: «Wir sind allein. Wir können ungeniert miteinander sprechen.»
Er begann seinen Overall auszuziehen und sagte verbittert: «Wo ist dieser elende Kerl jetzt?»
«Am Ausgangspunkt. Oben in Tollers Zimmer.»
«Du fandest ihn in der Garage des Daimler?»
«Ja. Er erklärte mir, er habe es sich in letzter Minute anders überlegt, und versteckte sich daher, als der Chauffeur kam, um den Wagen zu holen, unter einer Wagenplane.»
«Anders überlegt? Will er nach Moskau zurück?»
Sie schüttelte den Kopf. «Keineswegs. Unser Fluchtplan gefiel ihm nicht. Es gelang mir, ihn unbemerkt in den Škoda zu schmuggeln, und ich brachte ihn hierher zurück. Toller war nahe daran, ihm an die Gurgel zu springen, als er wieder auftauchte.»
Willie nahm die Kappe ab und schob die Gummipolster in seine Wangen. Seine Bewegungen waren gespannt und präzis. Sie wußte, daß er vor Ärger kochte. Ihre eigene Wut hatte sich langsam gelegt. Sie sagte:
«Es hätte schlechter ausgehen können, Willie, Liebling. Ich weiß, die Reifenpanne war ein grotesker Zufall, aber sie passierte nun einmal. Wir hätten Okubo vermutlich aus dem Kofferraum und in den Lieferwagen gebracht, aber auch dann hätten wir ihn nur hierher zurückbringen können.»
Willie blies hörbar den Atem aus und nickte in widerwilligem Einverständnis. «Sagtest du Okubo, was geschehen ist?»
Sie schnitt eine Grimasse. «Nein. Er ist schlimm genug, auch ohne daß man ihm die Chance gibt, ‹Ich habe es ja vorausgesehen› zu sagen. Ich beschimpfte ihn, weil er unseren Plan vereitelt hatte, aber da ich eine Frau bin, hörte er kaum zu. Er will bloß wissen, was als nächstes geschieht.»
«Das wüßte ich auch gern», sagte Willie mißmutig und setzte seine Fensterglasbrille auf.
«Ich sagte ihm, daß wir eine größere Operation in Gang setzen müßten und daß die Vorbereitungen ein paar Tage in Anspruch nehmen würden.» Willie starrte sie an. «Tarrants Leute aktivieren?»
«Ja. Das ist es, was Okubo haben möchte. Eine große Schau. Ich dachte, wir könnten ihn im Glauben lassen, daß etwas Derartiges geplant ist.»
Willie entspannte sich, sah sie neugierig an und versuchte ihre Gedanken zu erraten. Dann zog er die Brauen hoch und nickte zustimmend. «Ja, du kannst recht haben, Prinzessin.»
Sein Ärger war jetzt verflogen. Sie standen schweigend da, beide in Gedanken versunken. Endlich meinte Willie: «Tarrant sollte gestern abend die Nachricht erhalten haben. Der kalte Schweiß wird ihm ausbrechen, wenn Okubo nicht aus diesem Daimler hopst.»
«Ja.» Müde zuckte sie die Achseln. «Daran ist er gewöhnt. Wir werden ihm heute nacht eine weitere Nachricht schicken.»
«Auf dem gleichen Weg?»
«Ja. Ich will keine Kuriere benutzen. Ich will mich auf niemanden verlassen, außer auf uns selbst. Und Toller. Wir werden nochmals die Druckschriftenbombe benutzen. Toller sagt, sie werden zumindest während der nächsten zwei Wochen jede Nacht eine abschießen.»
Willie grinste. Die Idee stammte von Modesty, und er fand sie umwerfend. Toller druckte die Propagandablätter und packte sie in Papiermaché-«Bomben», die aus alten Mörsern über die Grenze gefeuert wurden. Jede Nacht lieferte er an
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