Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
ausprobieren wollen. Wenn er jemals von Porto Santo zurückkommt, meine ich. Aber wie ich ihn einschätze, bildet er sich immer mehr ein, als er in Wirklichkeit kann, also wäre es ja immerhin möglich, daß er das Messer mal ganz schrecklich schnell ziehen will, und dabei kommt es dann vielleicht zu einer kleinen Herzoperation am eigenen Leibe. Tja, und Ihnen vermache ich meine Stiefel, Colonel, und der Major kriegt mein Bruchband …«
Er fühlte die Kanüle in seinen Arm eindringen und plapperte weiter. Durch seine halbgeschlossenen Lider sah er, daß sie mit den Muskelkontraktionen um die Einstichstelle aufgehört hatte und mit dem Bein ein Stück seitwärts gerutscht war, um den feuchten Fleck auf dem Bett zu überdecken. Er wußte, daß sie unmöglich die gesamte Menge des Schlafmittels hatte herauspressen können, aber wenn sie nur ein Viertel der Dosis weniger im Körper hatte … wenn sie in sechs Stunden anstatt wie erwartet in acht, aufwachen würde …
Willie spürte, wie er das Bewußtsein verlor. Er versuchte erst gar nicht, es ihr nachzutun. Beide Männer beobachteten ihn, aber selbst wenn sie es nicht getan hätten, ihm fehlte ganz einfach Modestys außerordentliche Fähigkeit der Muskelbeherrschung. Jeder von ihnen besaß Fertigkeiten, in denen der andere nicht mithalten konnte, und diese gehörte zu den ihren. Ob es genügen würde, ob sie dadurch eine Chance bekämen, den Ablauf der Ereignisse zu bestimmen, das konnte man jetzt noch unmöglich beurteilen. Wenn es reichte, dann lag es ganz allein bei ihr, diese Chance zu ergreifen, denn er würde für die volle Länge der kommenden acht Stunden nur eine Last für sie darstellen.
Das war’s also. Die Entscheidung über ihrer beider Leben oder Tod ruhte nun in Modestys Händen. Ein zufriedenes Gefühl ergriff ihn, und bevor sich die Dunkelheit über ihn senkte, war er mit seinem letzten Gedanken heilfroh darüber, daß die Lösung dieser Frage nun bei ihr lag.
15
Die Nachtübung war kurz nach zwei Uhr morgens beendet. Sie war hervorragend verlaufen. Von Krankin freute sich, St. Maur war befriedigt. Während die Mannschaften in ihre Baracken auf der Insel zurückkehrten, um die Ausrüstung zu reinigen und zu überprüfen, bevor sie sich schlafen legten, bat Golitsyn:
»Können Sie mir ab Mittag einen guten Mann zur Bewachung der Gefangenen überlassen, Major?« Er trug einen Mantel und stand nicht weit von der Mole entfernt, die Schultern wegen des frostigen Nachtwindes etwas eingezogen.
»Sie haben Ihren Entschluß geändert, Colonel?«, fragte St. Maur leicht verärgert. »Ich dachte, Sie ziehen Schlafdrogen einer Bewachung vor?«
»Das tue ich auch. Aber in diesem Stadium bin ich in einer Stimmung, wo ich lieber alles doppelt und dreifach mache.« Golitsyn hob die Hand, um einer Widerrede entgegenzutreten. »Ich weiß, daß die Gefangenen bewußtlos sind und das auch bleiben werden, und ich weiß auch, daß ich Leute vom Hilfspersonal als Wachen einteilen kann, aber ich möchte einen Spitzenmann für die allerletzten Stunden, wenn es geht.« St. Maur zuckte die Achseln. »Bei ihnen drin, im Krankenzimmer?«
»Nein.« Golitsyn machte eine Pause, in der er versuchte, sich selbst die Motive seiner Unruhe klarzumachen. »Das Krankenrevier hat weder Fenster noch Bullaugen, und der einzige Ausweg führt durch einen kurzen Korridor. Die Tür hat innen einen Riegel. Ich werde ihn entfernen und außen anschrauben lassen. Wenn die Tür verschlossen und verriegelt ist und ihr Mann draußen an der Stelle stationiert wird, wo der Korridor einen Bogen macht, dann ist jeder Ausbruchsversuch aussichtslos.«
»Ausbruchsversuch?« warf von Krankin dazwischen.
»Wenn die beiden unter schwere Schlafmittel gesetzt sind?«
Golitsyn lächelte in die Dunkelheit hinein. Dieses Lächeln fiel ihm nicht leicht. Seit seinem kurzen Zusammentreffen mit Blaise und Garvin konnte er eine merkwürdige Unruhe nicht loswerden, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte. »Lassen Sie einem verrückten alten russischen Colonel seine Grillen, Siegfried«, erwiderte er geduldig. »Bis Mittag werden ihre Leute alle genügend ausgeruht sein. Überlassen Sie mir ab zwölf eine Wache, und bis dahin komme ich mit dem Hilfspersonal aus.«
»So eine Entscheidung liegt beim Major«, sagte von Krankin, und in seiner Antwort lag eine gewisse Schärfe. Unerwarteterweise meinte St. Maur jedoch: »Gar keine Frage, Colonel. Ich selbst kann zwar für irgendwelche Ahnungen keine Zeit
Weitere Kostenlose Bücher