Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
Fechter von internationalem Rang gewesen, und die Szene erinnerte ihn auf unheimliche Weise an einen Degenkampf. Es gab lange Pausen der scheinbaren Ruhe, mit nur minimalen Bewegungen, eine Verlagerung des Standbeines und kleine, angedeutete Finten; dann ein plötzlicher Ausfall und wirbelndes Durcheinander, in dem die einzelnen Bewegungen selbst für sein geübtes Auge fast unmöglich zu verfolgen waren, dann ließen die Gegner wieder voneinander ab, und es folgte eine weitere Phase der Reglosigkeit.
Nachdem sich die beiden zum dritten Mal voneinander gelöst hatten, und als Mikolaj gerade wieder blitzschnell zu einer neuen Attacke ansetzte, drehte sich Willie schlagartig um und rannte davon. Der andere setzte ihm nach wie ein Gepard auf der Jagd. Tarrant stockte der Atem. Willie rannte sechs Schritte, scheinbar vollkommen blind vor Panik, denn er lief direkt auf einen Pfeiler zu. Und wich ihm nicht aus. Mit dem Schwung seines Anlaufs rannte er den Pfeiler zwei volle Schrittlängen
hinauf
, ließ seine Kreppsohlen auf dem rauhen Beton Halt finden. Der Salto rückwärts kam rasch und elegant.
Ein Zirkustrick, dachte sich Tarrant in seiner Verblüffung. Ein Trick für einen Clown, einen Akrobatenclown. Mikolaj hatte keine Chance mehr, rechtzeitig anzuhalten. Er setzte zu einer Ausweichbewegung an, stieß verzweifelt mit einem Fuß, riß einen schützenden Arm über seinen Kopf, aber schon kam Willie Garvin hinter ihm herunter, dicht hinter ihm, und ließ eine seiner Hände schräg von oben in einem
Shuto
-Hieb niedersausen, seitlich gegen Mikolajs Hals, direkt unterhalb des Ohres, wobei er die gesamte Kraft seines Körpergewichtes von neunzig Kilo nach dem Fall aus zwei Metern Höhe hineinlegte.
Tarrant sah den Mann im blauen Pullover zu Boden gehen, als wäre er vom Blitz getroffen worden. Im selben Moment landete Willie, die Beine gespreizt, die Hände zur Abwehr bereit. Er verharrte noch kurz in dieser gebückten Haltung, auf alles gefaßt, dann richtete er sich langsam auf, wandte sich ab, lehnte sich mit einer Schulter gegen den Pfeiler und sog mit tiefen Zügen Luft in seine Lungen. Etwas später holte er ein Taschentuch hervor und fing an, sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen.
Tarrants Fuß brachte ein Steinchen ins Kollern, als er nun über den Betonfußboden herüberkam, und Willies Kopf fuhr heftig herum. Tarrant sagte: »Ich bin’s nur«, und ging weiter. Mikolaj lag mit dem Gesicht nach unten, der Winkel seines Genicks ließ jedoch keinen Zweifel darüber aufkommen, daß es gebrochen war.
Willie atmete pfeifend ein und krächzte: »Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollten sich verpissen.«
Tarrant bemerkte, daß er am ganzen Körper leicht zitterte. Er nahm Willie das Taschentuch aus der Hand.
»Lassen Sie mich das mal ansehen.« Nachdem er noch etwas mehr Blut weggetupft hatte, sah er eine fünf Zentimeter lange Platzwunde, die sich über den oberen Rand des Backenknochens dicht unter dem Haaransatz zog. »Das geht nicht allzu tief, aber sie sollten ein Pflaster drüber kleben«, sagte er. »Ich habe welche im Auto, im Erste-Hilfe-Kasten. Glauben Sie, daß hier irgend jemand hereinkommen wird?«
»Kaum. Und wenn doch, dann ist es Hausfriedensbruch, und wir können ihn rauswerfen.« Willies Stimme war schon wieder ruhiger geworden. »Um so besser.« Tarrant ging hinaus zu seinem Wagen. Als er nach einer Minute wieder zurückkam, war Willie verschwunden, und eine der beiden Leichen ebenfalls. Eine schmale Tür an der Rückwand des Raumes stand offen. Sie war Tarrant vorher noch gar nicht aufgefallen. Als er nun auf sie zuging, kam Willie von draußen herein, einen Handrücken gegen den Backenknochen gepreßt. Tarrant riß von einem der Pflaster die Schutzfolie ab und legte es über die Wunde.
»Danke.« Willie bückte sich, hievte den zweiten Körper mit einem gekonnten Wurf über die Schultern und wandte sich wieder der schmalen Tür zu, durch die er sich wegen seiner sperrigen Last seitwärts hinausschlängelte. Tarrant folgte ihm. Viele Fragen und Bemerkungen lagen ihm auf der Zunge, aber dies war nicht der richtige Augenblick dafür. Hinter der Rückseite des Gebäudes war eine freie Fläche, auf der jemand Schotter gestreut und teilweise damit begonnen hatte, eine zwanzig Zentimeter dicke Schicht aus Beton für einen Parkplatz aufzulegen. Ein niedriges Ziegelmäuerchen war auf beiden Seiten des Platzes halb fertig. In der Nähe standen mehrere Baumaschinen, und daneben ein Landrover, den
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