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Mörder im Chat - Ostsee-Krimi : (Aus Rostock)

Mörder im Chat - Ostsee-Krimi : (Aus Rostock)

Titel: Mörder im Chat - Ostsee-Krimi : (Aus Rostock) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinstorff-Verlag
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wohnte im vierten Stock. Obwohl er üblicherweise bis in vierte, fünfte Etagen Treppen benutzte, nahm Uplegger dieses Mal den wieder freigegebenen Lift, um sich für das zuvor erlittene Ungemach zu rächen. An wem, konnte er nicht sagen, da er ja keinen Schaden anrichtete: Es war eine Rache am Schicksal oder an der allgemeinen Schrecklichkeit der Welt, an eher abstrakten Dingen also, aber sie war trotzdem süß.
    Das Messingschild neben der Wohnung 402 trug die Aufschrift A. & G. Nerdich: A bedeutete Almut, G war schon tot. Vor vier Jahren hatte Frau Nerdich ihren Gerd zu Grabe getragen. Uplegger schoss der ketzerische Gedanke durch den Sinn, ob sie vielleicht an jenem schicksalsschweren Tag begonnen hatte, sich gut zu frisieren.
    Er klingelte. Nach wenigen Augenblicken hörte er Schritte im Flur. Eine kräftige Stimme fragte »Ja?« durch die geschlossene Tür.
    »Jonas Uplegger von der Polizei.«
    »Wer?«
    »Jonas Uplegger von der Polizei.«
    »Von der Polizei?«
    »Ja.«
    Die Tür wurde einen Spalt geöffnet, ein runzliges Gesicht mit wässrigen, leicht geröteten Augen und einer Hakennase erschien. Der Kommissar wurde einer genauen Musterung unterzogen, dann erst betrachtete die alte Dame den Dienstausweis. Sie trug eine Brille mit dünnem Metallrand, ihr Haar war kastanienbraun mit einem Stich ins Rötliche, es war tatsächlich exakt frisiert und ohne eine Spur von Grau – weil es eine Perücke war.
    »Sie wünschen?«
    »Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.«
    »Worüber?« Obwohl sie seinen Ausweis gesehen hatte, blieb sie misstrauisch.
    »Über den vorgestrigen Abend.«
    »Was ist denn passiert?«
    »Wir haben im sechsten Stock Zeichen für ein … eine Straftat gefunden.«
    »Oh, das ist ja interessant.« Ein feines Lächeln bedeckte kurz ihre Züge. »Sie haben Zeichen für eine Straftat gefunden – wie darf ich mir das vorstellen? Eine plötzlich erscheinende Inschrift an der Wand: Menetekel upharsim?«
    »Sie sind wohl Theologin?«
    »Nein. Ich bin in Rente. Als ich noch nicht in Rente war, habe ich Deutsch und Englisch unterrichtet. Sie scheinen ein intelligenter junger Mann zu sein, wenn Sie wissen, dass Menetekel upharsim etwas mit Theologie zu tun hat – oder besser: mit der Bibel.«
    »Ich fühle mich geschmeichelt, möchte aber betonen, dass Wissen und Intelligenz nicht unbedingt …«
    »Richtig!« Frau Nerdich schnippte mit den Fingern, und ihre Miene wurde hell. Sie öffnete die Tür weit und bedeutete Uplegger mit einem Kopfnicken, er möge eintreten. »Ich habe bis 2003 unterrichtet, eine halbe Ewigkeit an der Ernst-Thälmann-EOS und dann noch ein paar Jährchen an der Freien Schule in der Südstadt. Da sind viele Schüler durch meine Hände gegangen, die einen Mangel an Grips durch Fleiß und maßlosen Ehrgeiz auszugleichen versuchten. Bedingt ist das ja möglich … Sie schaffen sogar ein Studium, promovieren mit Plagiaten und machen dann Karriere in Berufen, in denen Denken schadet.« Die alte Dame ging voraus und öffnete eine weitere Tür, die nur angelehnt war, mit einem Fußtritt. In der Wohnung roch es ein wenig muffig, und sie kam Uplegger auch überheizt vor. »Ich habe stets drei Formen von Kenntniserwerb unterschieden, das Anhäufen von Informationen, das Aneignen von Wissen und die Bildung.«
    »Und unter Bildung versehen Sie …?«
    »Das Verknüpfen. Das Erkennen von Zusammenhängen. Ein gebildeter Mensch weiß, dass an jedem Wissensfaden, den er ergreift, die ganze Welt hängt. Die Frage ›Wozu brauche ich Physik, ich will doch Kunstgeschichte studieren?‹ stellt nur ein Barbar. Außerdem verbindet sich bei einem gebildeten Menschen der Wissensdrang mit Leidenschaft. Möchten Sie Kaffee?« Kaffe, sagte sie.
    Uplegger nickte. Diese Frage – wozu brauche ich A, ich will doch B werden oder studieren – kannte er zur Genüge von seinem Sohn, wobei A und B ständig wechselten. Im Moment stand er mit Biologie auf Kriegsfuß, die er für seinen künftigen Beruf nie benötigen würde, obwohl er zugleich nicht im Geringsten wusste, was er überhaupt werden wollte: Alles an dem Jungen war reiner Widerspruch. Pubertät eben. Im Übrigen besuchte er jene Schule, die seit fast einem Vierteljahrhundert nicht mehr nach Ernst Thälmann hieß.
    Frau Nerdich wies ins Wohnzimmer: »Setzen Sie sich schon. Ich beeile mich mit dem Kaffe. Wie mögen Sie ihn? Schwarz oder blond?«
    »Ein bisschen Milch, keinen Zucker.« Uplegger blieb auf der Schwelle stehen. Das Zimmer war

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