Mörderische Aussichten
wesentlich dunkler als das rechte. Ich rannte ins Badezimmer und schaltete
das Neonlicht an. Es bestand kein Zweifel. Meine Tochter würde heiraten und ans andere Ende der Welt ziehen, und ich hatte
nichts zum Anziehen für ihre Hochzeit und außerdem ein blaues Auge. Verdammt!
Ich ging an den Kühlschrank, nahm die letzte Schachtel Mint-Schoko-Kekse heraus und schaltete den Spielfilmkanal ein. Es lief
›Bis zum letzten Mann‹ mit Henry Fonda, John Wayne und Shirley Temple. Eine einfallsreiche Besetzung. Ich lehnte mich zurück,
sah mir den Film an, aß Kekse und wartete schlicht und ergreifend auf das, was da kommen mochte.
Natürlich war dies ein Anruf meiner Schwester. Sie saß im Krankenhaus fest, nachdem Ray weggefahren war, um Sheriff Reuse
zu treffen. Sie würde in einer Viertelstunde draußen auf mich warten. In einer Viertelstunde. Es war zu heiß, um jemanden
auf dem Gehweg in der Sonne schmoren zu lassen.
»Wie geht es Meemaw?«, fragte ich.
»Nicht allzu gut. Ich glaube, sie sind dabei, sich auf die Diagnose Hitzschlag zu einigen. In einer Viertelstunde.«
Okay. Ich schaltete ›Bis zum letzten Mann‹ ab. Es war nicht schwer, sich auszumalen, was mit den Indianern passieren würde.
Dann nahm ich meine Schlüssel und fuhr in Richtung Universitätsklinik.
Keine Mary Alice weit und breit. Ich fuhr im Schritttempo die Nineteenth Street an der Vorderseite des Krankenhauses entlang
und blickte auf meine Uhr. Vielleicht hatte sie den Ausgang der Notaufnahme gemeint. Ichbog in die Sixth Avenue ein. Ein paar Krankenwagen, um die ein paar Leute herumhuschten, parkten unter dem Säulenvorbau der
Notfallambulanz, aber auf dem Gehsteig stand niemand. Ich fuhr um den Block. Fünfmal. Langsam. Es ist einer der verkehrsreichsten
Blocks in Birmingham. Folglich erntete ich von anderen Fahrern mehrere obszöne Gesten, von denen einige sehr plastisch waren.
Als ich das sechste Mal die Runde gemacht hatte, wendete ich, fuhr andersherum zurück und hielt neben der Einfahrt eines bewachten
Parkplatzes an. In dem Wachhäuschen, einer einfachen Bretterbude, die mit einem Stuhl, einem Fernseher und einer Klimaanlage
ausgestattet war, welche stoßweise rostige Rinnsale ausspuckte, saß ein Mann, den Blick auf den Bildschirm geheftet. Hinter
ihm hingen unzählige Schlüsselbunde in langen Reihen an der Wand.
Er zog das Fenster hoch und sagte: »Meine Dame, ich bin voll.«
»Und mir reicht’s jetzt«, erwiderte ich. Als ich aus dem Auto stieg, sah ich, dass er ›Bis zum letzten Mann‹ anschaute.
Ich überquerte verkehrswidrig die Nineteenth Street, was noch ein paar weitere obszöne Gesten provozierte. Die Absätze meiner
Sandalen blieben mit jedem Schritt an dem heißen Straßenbelag kleben. Die kühle Lobby im Krankenhaus war die reinste Wohltat.
Die Frau am Informationstresen blickte alarmiert auf. »Die Notfallstation ist da hinten, meine Liebe.« Sie deutete auf einen
Flur, auf dem deutlich NOTAUFNAHME stand. »Soll Ihnen jemand bis dorthin helfen? Der Weg ist ziemlich lang.«
»Mir geht es gut«, versicherte ich ihr. »Ich bin nur gestern Abend gestürzt.«
»Das sieht man. Was ist denn passiert?« Es war eine ernst gemeinte Frage, sie war nicht bloß neugierig. Und hätte ich es ihr
erzählt, hätte sie mich nicht nur verstanden, sondern wahrscheinlich auch noch eine Tante aufgeboten, der exakt dasselbe passiert
war.
»Voll über einen Truthahn, klatsch, mitten auf dem Familienfest.«
Ich mag diesen Ort schrecklich gern.
Doch leider hatte ich keine Zeit für eine Unterhaltung. »Ich bin bei meiner Schwester auf der Treppe gestürzt«, sagte ich.
»Mir ist aber nichts passiert.«
»Dann fühlen Sie sich bestimmt wie gerädert.«
»Da haben Sie recht.« Ich bewegte steif die Schultern, um ihr zu versichern, dass ich mich in der Tat wie gerädert fühlte.
»Ich suche meine Schwester. Sie wollte eigentlich draußen auf dem Bürgersteig auf mich warten, und jetzt bin ich so oft um
den Block gefahren, dass mir ganz schwindelig ist.«
»Könnte eine Gehirnerschütterung sein.«
»Nein. Mir fehlt nichts. Ich muss nur meine Schwester finden. Sie ist hier bei einer Frau namens Mary Louise Turkett, die
heute Nachmittag eingeliefert wurde. Vermutlich wegen eines Hitzschlags oder Schlaganfalls.«
»Ich schau mal nach.« Die Frau, deren Namensschild sie als Grace Oliver auswies, nahm ihr Telefon zur Hand. »Myrtice? Hier
ist Grace.« Pause. »Gott, weiß ich doch nicht.
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