Mona Lisa Overdrive
schlüpfte in ihre beste, voluminöseste Lederhose, wühlte sich in einen haarigen blauen Pullover, der so groß war, daß er leicht Fetal gepaßt hätte. Als sie das Make-up aus ihrer geöffneten Tasche nehmen wollte, sah sie das Maas-Neotek Gerät. Automatisch faßte sie danach.
Sie wollte ihn gar nicht rufen, aber eine Berührung genügte. Da war er und reckte drollig den Hals und wunderte sich über die niedrige, verspiegelte Zimmerdecke.
»Ich nehme an, wir sind nicht im Dorchester?«
»Ich stelle hier die Fragen«, sagte sie. »Was ist das hier?«
»Ein Schlafzimmer«, erklärte er. »In recht dubioser Aufmachung.«
»Beantworte bitte meine Frage!«
»Nun«, sagte er und beäugte das Bett und die Wanne, »anhand der Ausstattung könnte man auf ein Bordell schließen. Ich habe Zugriff zur Baugeschichte von fast ganz London, aber zu diesem Haus gibt's nichts Besonderes zu sagen. Erbaut 1848. Gediegenes Beispiel des vorherrschenden Viktorianischen Stils in klassischer Ausprägung. Teure, aber nicht vornehme Gegend, in gewissen Anwaltskreisen beliebt.« Er zuckte die Achseln; sie konnte durch seine auf Glanz polierten Reitstiefel die Bettkante sehen.
Sie warf das Gerät in die Tasche, und er war weg.
Mit dem Lift kam sie ganz gut zurecht; drunten im weißgestrichenen Foyer angekommen, folgte sie den Stimmen. Durch einen Gang. Um eine Ecke.
»Guten Morgen«, sagte Fetal und hob den silbernen Deckel von einer Servierplatte. Dampf stieg auf. »Da ist der selten anzutreffende Mr. Swain, Roger für dich, und hier ist dein Frühstück.«
»Hallo«, sagte der Mann und trat mit vorgestreckter Hand heran. Fahle Augen im hageren,
markanten Gesicht. Glattes, mausgraues Haar, diagonal über die Stirn gekämmt. Kumiko tat sich schwer, sein Alter zu schätzen. Es war ein jugendliches Gesicht, das allerdings tiefe Falten unter den grauen Augen aufwies. Er war groß und hatte athletische Arme und Schultern. »Willkommen in London!« Er nahm ihre Hand, drückte sie, ließ los.
»Danke.«
Er trug ein kragenloses Hemd mit hauchfeinen roten Streifen auf blaßblauem Grund und
schlichten ovalen Manschetten aus mattem Gold an den Ärmeln; der offene Hals zeigte ein
dunkles Dreieck mit tätowierter Haut. »Ich habe heute morgen mit deinem Vater gesprochen und ihm gemeldet, daß du wohlbehalten angekommen bist.«
»Ein Mann von Stand?«
Er kniff die fahlen Augen zusammen. »Wie bitte?«
»Die Drachen.«
Fetal lachte.
»Laßt sie essen«, sagte jemand, eine Frauenstimme.
Kumiko wandte sich um und bemerkte die schlanke, dunkle Gestalt vor hohen Fenstern mit
Mittelpfosten. Hinter den Fenstern ein schneebedeckter, von Mauern umschlossener Garten. Die Frau versteckte ihre Augen hinter silbernen Brillengläsern, in denen sich der Raum samt Personen spiegelte.
»Noch ein Gast von uns«, sagte Fetal.
»Sally«, sagte die Frau. »Sally Shears. Iß schon, Kleines. Wenn dir auch so langweilig ist wie mir, hast du sicher Lust auf 'nen Spaziergang.« Während Kumiko sie noch groß ansah, hob sie die Hand und faßte sich an die Brille, als wollte sie sie absetzen. »Zur Portobello Road ist's ein Katzensprung. Muß frische Luft schnappen.« Die verspiegelte Brille hatte anscheinend keine Fassung, keine Bügel.
»Roger«, sagte Fetal, der Speckscheiben von einer silbernen Platte auf die Gabel spießte,
»glaubst du, Kumiko ist bei unsrer Sally sicher?«
»Und ob — bei der Laune, die sie hat«, sagte Swain. »Ich fürchte, wir können dir hier nicht viel bieten an Zerstreuung«, sagte er zu Kumkio, während er sie an den Tisch führte, »aber wir versuchen alles, damit du dich wohl fühlst, und sorgen dafür, daß du ein bißchen was von der Stadt siehst. Ist freilich nicht Tokyo.«
»Noch nicht zumindest«, meinte Fetal, aber das schien Swain nicht zu hören.
»Danke«, sagte Kumiko, als Swain ihr den Stuhl hielt.
»Eine Ehre«, sagte Swain. »Unsere Hochachtung vor deinem Vater ...«
»Ey«, sagte die Frau, »sie ist noch zu jung für den Scheiß. Verschon uns damit!«
»Sally ist halt nicht in bester Stimmung«, sagte Fetal, während er Kumiko ein verlorenes Ei auf den Teller legte.
Sally Shears Stimmung, so zeigte sich, war kaum verhaltener Zorn, eine Mordswut, die sich in ihren Schritten ausdrückte, im furiosen Pengpeng ihrer schwarzen Hacken auf dem eisigen Pflaster.
Kumiko mußte laufen, um Schritt zu halten, als die Frau aus Swains Haus durch den
Straßenbogen stöckelte, wobei die Brille kalt im diffusen Licht
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