Mona Lisa Overdrive
war, kurz über ihre Wange streifte. »Ich, Baby, ich muß jetzt los.«
Und sie war verschwunden im gedämpften Klirren und Klappern der Lounge. Petal am Eingang
räusperte sich.
Der Rückflug nach London war wie eine ewig lange U-Bahn-Fahrt. Petal vertrieb sich die Zeit damit, Buchstaben zu malen, die er nacheinander in irgendein doofes Kreuzworträtsel aus einem englischen Fax einsetzte, wobei er leise vor sich hinbrummte. Schießlich schlief sie ein und träumte von der Mutter. ...
»Die Heizung geht«, sagte Petal, als er sie von Heathrow zu Swain chauffierte. Es war
unangenehm warm im Jaguar, trockene Luft, die nach Leder roch und in der Nase brannte. Sie beachtete ihn nicht, sondern schaute hinaus ins dämmrige Morgenlicht, auf die Dächer, die schwarz durch den tauenden Schnee lugten, auf den Schornsteinwald ...
»Er ist nicht böse auf dich, weißt du«, sagte Petal. »Er empfindet besondere Verantwortung.«
»Gin.«
»Hm ... ja. Verantwortung, nicht? Sally war noch nie besonders berechenbar, wie man so sagt, aber so was erwarteten wir nicht...«
»Ich möchte nicht reden, danke.«
Seine kleinen besorgten Augen im Spiegel.
Im bogenförmigen Straßenzug reihten sich parkende Wagen aneinander, lange silbergraue
Wagen mit getönten Scheiben.
»Hat viel Besuch diese Woche«, sagte Petal, der gegenüber der Hausnummer 17 einparkte. Er stieg aus, hielt ihr die Tür auf. Sie folgte ihm wie gelähmt über die Straße und die grauen Stufen hinauf, wo die schwarze Tür von einem untersetzten Mann mit rotem Gesicht und einem engen dunklen Anzug geöffnet wurde, an dem Petal vorbeiging, als wäre er gar nicht da.
»Halt!« sagte Rotgesicht. »Sie soll gleich zu Swain ...« Diese Äußerung des Mannes ließ Petal abrupt innehalten; mit einem Brummlaut und besorgniserregender Geschwindigkeit wirbelte er herum und packte den Mann am Revers.
»In Zukunft mehr Respekt«, sagte Petal, und obwohl er nicht laut wurde, war die lässige
Sanftheit in seiner Stimme total weg. Kumiko hörte Nähte platzen.
»Sorry, Mann.« Das rote Gesicht war bewußt ausdruckslos. »Er hat mir auch gesagt, ich soll das ausrichten.«
»Also komm!« sagte Petal zu ihr und ließ das dunkle Kammgarn-Revers los. »Er will nur guten Tag sagen.«
Sie fanden Swain an einem drei Meter langen, eichenen Refektoriumstisch in dem Zimmer, wo sie ihn kennengelernt hatte. Die Rangzeichen-Drachen waren hinter feinem weißen Wollstoff und gestreifter Seidenkrawatte weggeknöpft. Er sah ihr in die Augen, als sie eintrat. Sein längliches Gesicht lag im gedämpften Licht einer grün beschirmten Messinglampe, die neben einer kleinen Console und einem dicken Bündel Fax auf dem Tisch stand. »Gut«, sagte er, »und wie war's denn so im Sprawl?«
»Ich bin sehr müde, Mr. Swain. Ich möchte gern in mein Zimmer gehn.«
»Wir sind froh, daß wir dich wiederhaben, Kumiko. Das Sprawl ist ein gefährliches Pflaster. Der Umgang mit Sallys Freunden dort, der Sorte Leute, wäre deinem Vater sicherlich nicht recht.«
»Darf ich jetzt auf mein Zimmer gehn?«
»Hast du irgendwelche Freunde von Sally kennengelernt, Kumiko?«
»Nein.«
»Wirklich? Was habt ihr denn gemacht?«
»Nichts.«
»Du darfst uns nicht böse sein, Kumiko. Wir beschützen dich.«
»Danke. Darf ich jetzt auf mein Zimmer gehn?«
»Natürlich. Du wirst sehr müde sein.«
Fetal, der ihren Koffer trug und dessen grauer Anzug arg verknittert war vom Flug, begleitete sie hinauf ins Zimmer. Sie sah tunlichst nicht auf, als sie das starre, leere Gesicht der Marmorbüste passierten, hinter der vielleicht noch das Maas Neotek-Gerät steckte. Da Swain und Petal im Zimmer waren, hatte sie keine Ahnung, wie sie es wieder an sich nehmen könnte.
Es war neues Leben im Haus, stille Betriebsamkeit: Stimmen, Schritte, Aufzugklappern,
Wassergluckern, wenn jemand ein Bad nahm.
Sie saß am Fuß des riesigen Bettes und starrte auf die schwarze Marmorwanne. Nachwirkende Eindrücke von New York tauchten am Rande ihres Blickfelds auf; wenn sie die Augen schloß, fand sie sich, neben Sally hockend, in der Gasse wieder. Sally, die sie weggeschickt hatte. Die nicht umgeschaut hatte. Sally, die einmal Molly geheißen hatte oder Misty oder beides. Wieder das Gefühl der Unwürdigkeit. Sumida, die Mutter, im schwarzen Wasser treibend. Ihr Vater.
Sally.
Momente später stand sie, von einer Neugier getrieben, die ihre Scham beiseite schob, vom Bett auf, bürstete sich das Haar, schlüpfte in leichte schwarze
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