Mondberge - Ein Afrika-Thriller
hat Tom mich gestern deinen Bruder genannt?«, fragte Peter unvermittelt.
»Weil du mein Halbbruder bist«, murmelte Andrea.
»Wie kommst du darauf?«
»Mein Vater hat vor vielen Jahren in Uganda gelebt. Deine Mutter war seine Freundin.«
Peters Gesichtszüge verfinsterten sich. »Das soll ich glauben?«
»Ich habe vier Monate gebraucht, bis ich dich gefunden hatte. Die deutsche Botschaft in Kampala hat die Dokumente bestätigt. Es gibt keinen Zweifel.«
Peter blickte auf seine ineinandergelegten Hände. »Mein Vater ist tot. Ich habe ihn niemals kennen gelernt. Aber ich weiß, dass er tot ist.«
»Aber, du bist doch Peter Bosco, oder?« Andreas Stimme zitterte.
»Ich bin sicher, dass viele Menschen in Uganda so heißen.«
»Und du lebst in Kasese ...«
»Kasese ist eine große Stadt.«
»Ich habe mich doch genau erkundigt«, beharrte Andrea.
»Warum bist du hier?«
Peter schaute von seinen Händen hoch.
»Warum kommt dein Vater nicht selbst?« Er sah sie nun direkt an, und Andrea erkannte wieder die Augen ihres Vaters. »Das ist doch absurd.« Er stand auf, half Tom, dem es schon deutlich besser ging als am Tag zuvor, auf die Beine und marschierte weiter.
»Mein Vater kann nicht nach Uganda reisen.« Andrea folgte den beiden Männern in kurzem Abstand.
»Warum nicht?« Peter wandte sich kurz um. »Ist er tot? Dann erwartest du hoffentlich kein Mitleid ...«
»Nein, er lebt. Und er ist gesund.«
Peter blieb stehen und wartete, bis Andrea an seiner Seite war. »Ihm ist es also peinlich, dass er einen Sohn mit einer Schwarzen hat?«
»Nein.« Andrea zögerte einen Moment. Dann atmete sie tief durch und fuhr fort: »Ich kann dir das jetzt nicht erklären. Das ist zu kompliziert.«
Peter sah die Frau, die darauf bestand, seine Halbschwester zu sein, skeptisch an. Dann nickte er ruppig und beendete damit das Thema. Er ließ Tom und die unschlüssige Andrea an sich vorbeigehen.
Die Berggorillas geleiteten sie einen schmalen, kaum ausgetretenen Pfad den Hang hinab. Nahezu mit jedem Schritt veränderte sich die Landschaft. Die Felsen und kargen Flächen machten immer öfter dichtem Bewuchs Platz. Die beiden Kinder liefen an der Spitze der Gruppe. Sie schienen den Berggorillas bedingungslos zu vertrauen.
Tom schaute ihnen wehmütig hinterher. Könnte er doch nur mit der gleichen selbstverständlichen Sicherheit denken und fühlen wie sie. Doch die Angst vor der Ungewissheit, was sie im Tal erwartete, hielt ihn fest umklammert.
Er musste an seinen Vater denken. Sie hatten in den letzten Monaten viel Zeit miteinander verbracht. Der Krebs zwang ihn mittlerweile, den größten Teil des Tages im Bett oder in dem großen Lehnstuhl auf der Terrasse zu verbringen. Wie oft hatte Tom bei ihm am Bett gesessen, mit ihm gesprochen und seine Hand gehalten. Sein Vater war immer wieder eingeschlafen, ruhig, durch das Morphium wie in Watte gepackt. Tom war bei ihm geblieben, hatte sich manchmal auf der Bettseite seiner Mutter hingelegt, war selbst eingedöst. Er sah das eingefallene Gesicht seines Vaters vor sich, die faltige Hand, die in der seinen lag.
Und dann waren da die Nächte, in denen Tom wach wurde, weil sein Vater im Erdgeschoss seine Runden drehte. Er ging dann immer nach unten, setzte sich in den alten Lehnstuhl und leistete ihm Gesellschaft. Die Schmerzen ließen seinen Vater nicht mehr zur Ruhe kommen. Der Krebs breitete sich im ganzen Körper aus. Nun half auch das Morphium oft nicht mehr. In einer dieser Nächte war sein Vater neben ihm vor Schmerzen zusammengebrochen. Er hatte geweint, ohne zu klagen, nur wegen des Schmerzes. Und vor Angst. Der Vater wollte nicht sterben. Er wollte leben. Tom hatte selbst schon oft geweint, bis dahin immer heimlich. Aus Sorge, seinen Vater zusätzlich zu belasten. In dieser einen Nacht hatte er mit seinem Vater zusammen den Tränen freien Lauf gelassen. Die Gemeinsamkeit, die dabei den Raum erfüllte, führte ihm vor Augen, dass die Rücksicht, die sie bisher voreinander genommen hatten, vor allem eines verhindert hatte: echte Nähe.
Damals hatte er sie gespürt, die Liebe. Ja, er liebte seinen Vater. Bei dem Gedanken daran, dass er Schmerzen leiden musste, dass er sich quälte, dass er starb, spürte Tom einen tiefen Stich ins Herz. Tom hatte nie an Gott geglaubt, er hatte nie bewusst an irgendetwas geglaubt. Nun aber, hier im Ruwenzori, wusste er, dass er zumindest an die Liebe glaubte. Und er sehnte er sich danach, mehr zu glauben. Hier war er zum ersten Mal mit
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