Mondlaeufer
herausgefordert hatte. Sorin war ganz außer sich gewesen und tagelang nicht mehr von Andrys Seite gewichen. Und dann jener Winter, wo Sorin mit hohem Fieber im Bett lag und Andry dem Verbot seiner Mutter getrotzt hatte. Er war bei ihm geblieben und hatte sich um seinen Bruder gekümmert, bis es ihm wieder gut ging. So war es ihr Leben lang gewesen. Er hatte Mitleid mit denen, die keinen Zwilling, kein zweites Selbst hatten, das immer da war. Doch noch größer war sein Mitleid mit Maarken, der als Kind miterleben musste, wie sein Zwillingsbruder Jahni an der Pest starb.
Sorin drückte ihm wieder die Hände. »Glaubst du, dass du jetzt ein bisschen schlafen kannst?«
»Ja – nein. Andrade ist tot, nicht wahr?«
Sorin nickte. »Urival ist bei ihr und Lleyn auch, glaube ich.«
»Sei dankbar, dass du nicht das Gleiche sehen und fühlen kannst wie ich, Bruder«, flüsterte Andry. »Es war wie ein buntes Glasfenster, das sich bewegte. Bilder, die sich überlagerten und vom Feuer zurückgeworfen wurden. Aber dann zersprang es in eine Million Scherben, und ich musste die richtigen finden und die Bilder wieder zusammensetzen. Sioned hat es schließlich geschafft, aber … ich konnte sie alle spüren, uns alle, die Furcht vor den Schatten …«
»Es ist alles vorbei«, murmelte Sorin. »Entspann dich jetzt, Andry. Mach einfach die Augen zu. Ich bleibe hier.«
Andry lächelte schwach. »Weißt du, dass ich dich vermisst habe?«
»Ich dich auch. Hör mal, soll ich nicht einfach Vater fragen, ob ich diesen Winter bei dir in der Schule der Göttin verbringen kann? Er und Rohan müssen sich nun ja etwas für mich ausdenken, wo ich endlich ein Ritter bin. Dann haben sie mehr Zeit, sich zu überlegen, was sie jetzt mit mir anstellen wollen.«
»Was wünschst du dir denn?«
»Ich habe noch nie ernsthaft darüber nachgedacht«, erwiderte Sorin leichthin. »Sie werden mich gewiss nicht über die Rechnungsbücher von Radzyns Hafen setzen oder so.«
Andry kicherte. »Ein Glück. Du konntest ja noch nie etwas zusammenzählen, ohne deine Finger zu Hilfe zu nehmen.«
Sorin grinste, und Andry erkannte, dass der Geschwisterzauber wieder gewirkt hatte. Sein Bruder hatte ihn zum Lachen gebracht.
»Es wäre allerdings interessant, bei der Errichtung des neuen Hafens am Faolain mitzuarbeiten«, fuhr Sorin fort. »Ich baue gerne. Volog hat ein kleines Landgut, das er gerade herrichtet, falls Alasen jemanden heiratet, der keinen passenden Wohnsitz für eine Prinzessin bieten kann. Das hat mir viel Spaß gemacht …« Plötzlich unterbrach er sich und flüsterte: »Andry?«
Andry verfluchte sich selbst, weil sein Gesicht sein Geheimnis verraten hatte. »Was?«, fragte er und versuchte dabei, den abweisenden Ton von Maarken anzuschlagen. Doch offensichtlich hatte nur sein älterer Bruder diesen speziellen Tonfall von ihrem Vater geerbt. Sorin starrte ihn bloß an.
»Du – und Alasen?«, brachte er schließlich heraus. »O süße Göttin!«
»Was ist schon dabei?«, wollte Andry wissen. »Sicher bin ich kein Prinz, und ich habe auch kein Land, aber ich bin Enkel eines Prinzen und Sohn des Herrn von Radzyn und Neffe des …«
»Oh, nun hör aber auf, mit Referenzen zu winken wie ein geschäftstüchtiger Botschafter«, schalt Sorin. »Ich bin einfach nur überrascht, das ist alles. Ich kann in ihr nur den Quälgeist sehen, der mit der Zeit ganz hübsch geworden ist. Aber wenn du sie liebst …«
»Als wenn ich eine Chance hätte«, murmelte Andry.
»Warum nicht? Deine Abstammung ist ebenso gut wie ihre. Und außerdem ist sie mit Sioned und Pol verwandt. Alles würde in der Familie bleiben. Ich finde, das ist eine tolle Idee. Ehrlich.«
»Meinst du?« Andry seufzte. »Jetzt muss ich nur noch sie überzeugen und ihren Vater und ihre Mutter und …«
»Du klingst schon wie Maarken. Ihr Lichtläufer seht immer Schatten, wo überhaupt keine sind. Warum sollte sie dich nicht nehmen wollen? Du bist ganz vorzeigbar, du isst nicht mit den Fingern, du bist schlauer als ein durchschnittlicher Zugochse, und du wäschst dich regelmäßig.«
Andry musste wieder grinsen. »Danke für deine Aufmunterung. So etwas baut mich auf!«
Sorin klopfte ihm auf die Schulter. »Wirklich gern geschehen.« Doch dann wurde er wieder ernst. »Aber glaubst du wirklich, du könntest die Schule der Göttin aufgeben? Sie ist doch das, was du immer wolltest, Andry. Das Haus auf Kierst ist wunderschön, und es gibt dort mehr als genug zu tun für einen Mann. Mit
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