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Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf

Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf

Titel: Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stagg
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Unterkühlung hatten sie ausgelaugt und reizbar gemacht. Es war unmöglich, bei dem ständigen Kommen und Gehen auf der Station ein wenig Ruhe und Frieden zu finden. Und das ständige Klick, klick, klicketiklick der Großmutter im Nachbarbett, die offenbar den größten Pullover der Welt strickte, war auch nicht gerade hilfreich bei ihren angespannten Nerven.
    Aber was die ganze Sache nur noch schlimmer machte und dazu führte, dass sie sich noch mieser fühlte, war der unerträgliche Juckreiz an ihrem Bein unter dem dicken Gipsverband. Der trieb sie zur Raserei, war sogar schlimmer als der Schmerz in ihren Rippen. Sie hatte versucht, mit den Zehen zu wackeln, um das Unbehagen zu lindern, und an dem Gips gedreht, was wehgetan hatte. Sehr weh. Aber es hatte immer weitergejuckt, ja so arg gekribbelt, dass sie glaubte, eine ganze Armee von Ameisen würde über ihre Haut krabbeln, bis sie bereit gewesen wäre, sich das eigene Bein auszureißen, bloß damit es aufhörte.
    Schließlich hatte sie einen Geistesblitz gehabt. Sie lieh sich bei der liebenswerten alten Dame im Nachbarbett eine Stricknadel und schlug damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe.
    Doch kurz darauf starrte sie mürrisch auf ihren Oberschenkel, wo, eingequetscht zwischen Bein und Gips, der Kopf der Stricknadel gerade noch zu sehen war.
    Die Nadel steckte fest.
    Sie hatte sie bei ihrem Versuch, den Juckreiz zu stillen, tiefer und tiefer hineingedrückt, bis der Kopf so tief drin steckte, dass sie ihn mit ihren Fingern nicht mehr herausbekam. Wahrscheinlich würde nun in absehbarer Zeit die Blutzufuhr unterbrochen, und am Ende mussten sie ihr dasBein noch amputieren. Und das alles wegen eines unstillbaren Verlangens, sich zu kratzen.
    Zu allem Übel strickte ihre Bettnachbarin fröhlich weiter und klapperte nun mit ihren Ersatznadeln vor sich hin, die sie offenbar ständig bei sich trug. Für den Fall, dass irgendeine dumme Kuh im Nachbarbett eine in ihrem Gipsverband verlieren sollte.
    Véronique zog ihre Pyjamahose wieder hoch und ließ sich in die Kissen zurückfallen. Ein reißender Schmerz in der Seite rief ihr in Erinnerung, dass sie plötzliche Bewegungen vermeiden sollte. Jetzt fühlte sie sich noch viel elender. Sie schloss die Augen und kniff die Lider ganz fest zusammen, damit ihr die Tränen nicht über die Wangen liefen. Als ob ein juckendes Bein ihr schlimmstes Problem wäre. Der Arzt hatte ihr mitgeteilt, dass sie heute wieder nach Hause durfte, und sie hatte sich ein höhnisches Lachen verkneifen müssen.
    Nach Hause? Sie hatte kein Zuhause mehr. Alles, was sie jemals besessen hatte, war in dem Feuer verbrannt. Wenn man einmal von den Klamotten absah, die sie getragen hatte, als sie ihre Wohnung verließ, als da wären: ein Pullover, ein T-Shirt und Unterwäsche. Sie hatten ihr die Hose aufschneiden müssen, um ihr Bein zu behandeln, daher besaß sie nicht einmal mehr ein vollständiges Outfit. Sie würde das Krankenhaus wohl in dem extragroßen Schlafanzug verlassen müssen, den ihre Mutter ihr gekauft hatte, damit er über den Gips passte.
    Was die Frage nach ihrer Unterbringung anging, so war dies eine ganz andere Sache. In Mamans Haus zu ziehen kam nicht in Betracht, da es durch den Sturm, der Teile des Dachs weggerissen und eine Giebelwand schwer beschädigt hatte, unbewohnbar geworden war. Maman wohnte natürlich noch dort, weil sie zu eigensinnig war, um während derReparaturen woandershin zu ziehen. Aber für Véronique mit ihrem gebrochenen Bein …
    Also verfrachtete man sie, während man die Schäden an ihrer Wohnung feststellte und die notwendigen Arbeiten durchgeführt wurden, einfach wie einen Flüchtling zu Josette. Nur dass sie dorthin nicht einmal irgendwelche Habseligkeiten mitnehmen konnte.
    Sie gab sich Mühe, sich zusammenzureißen. Sie wusste, dass sie Josette für ihr großzügiges Angebot, sie bei sich aufzunehmen, dankbarer sein sollte. Aber es war schwer, nicht zu verzagen, und trotz all ihrer Bemühungen schlüpfte doch eine kleine Träne zwischen ihren zusammengepressten Lidern hindurch.
    »Vérrronique? Ischtschongutmeinschatsch. Wirkriegendaschonhin.«
    Eine schwielige Hand schob sich über die ihre, mit der sie die Bettdecke umklammert hielt, und dieses ungewöhnliche Zeichen der Zuneigung drohte ihr das letzte bisschen Selbstbeherrschung zu rauben, das ihr noch geblieben war.
    Sie wischte die restlichen Tränen fort und öffnete die Augen mit einem schiefen Lächeln.
    » Bonjour, Maman.«
    Annie erwiderte

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