Mord am Vesuv
Schriftstück war nicht da, und wir konnten uns auch schnell vergewissern, dass es nicht falsch abgelegt war. Wie es aussieht, ist es einfach verschwunden.«
Ich massierte den Rücken meiner langen, Metellustypischen Nase. »Dieser Tag ist schon jetzt ein Desaster, und dabei ist noch nicht mal Mittag. Gehe ich recht in der Annahme, dass dieser Sklave keine Ahnung hat, wer sich die fragliche Urkunde aushändigen ließ?«
»Er sagt, dass er erst seit einem Jahr im Archiv arbeitet und das Dokument womöglich schon vorher entfernt wurde.«
»Oder«, warf Hermes ein, »es ist erst gestern jemand bei ihm aufgekreuzt und hat das Schriftstück gegen eine saftige Bestechung mitgenommen. Natürlich kann er das schlecht zugeben, weil er sich damit eine schwere Auspeitschung einhandeln würde.«
»Jeder hat hier etwas zu verbergen«, stellte ich fest, »aber allen scheint es besonders wichtig zu sein, jede mögliche Verbindung zu Gaeto zu verheimlichen.«
Somit blieb mir nur noch eine mögliche Informationsquelle, um Gaetos Geschäftspartner zu identifizieren: seine trauernde Witwe. Am späten Vormittag stand ich in Begleitung meiner Liktoren vor der Tür ihres Stadthauses. Der Janitor ließ uns ein und führte mich ins Atrium.
»Bist du in offizieller Angelegenheit hier?«, fragte Jocasta.
»Heute ist kein Gerichtstag«, erwiderte ich. »Aber ich habe ein paar informelle Fragen an dich.«
»Dann folge mir bitte hier entlang.«
Während ich hinter ihr herging, bewunderte ich die anmutige Art, in der sie vor mir herschritt. Ihr wiegender Gang war zugleich würdevoll und provokativ, was von ihrem langen roten Haar noch zusätzlich betont wurde, das sie an diesem Morgen zu einem langen Schwanz zusammengebunden hatte, der bis an ihr wohlgeformtes Hinterteil reichte. Sowohl dieses als auch ihre langen Beine zeichneten sich unter ihrem Gewand deutlich ab.
Es war eines dieser hauchdünnen, engfaltigen Kleidungsstücke, die man häufig auf griechischen Vasenmalereien sieht - nicht ganz so schamlos, wie die koischen Kleider, aber wenn man die sehr viel züchtigeren römischen Maßstäbe anlegte, doch äußerst freizügig und gewagt. Überhaupt war ihr Erscheinungsbild an diesem Morgen durch und durch griechisch. Die Armreife an ihren entblößten Oberarmen, der Schmuck in ihrem Haar, die Kosmetika, die sie aufgetragen hatte - alles an ihr war so griechisch wie Homer.
Diesmal führte sie mich nicht ins impluvium, sondern in eine kleine Bibliothek, die zu den Kolonnaden hin offen war. Ich musterte die wabenartigen Regale, die sich an drei Wänden bis zur Decke hinaufzogen, und überflog die zahlreichen Titel. Wie es schien, las sie vor allem griechische Dramatiker und Dichter, jedenfalls sah ich keine historischen oder philosophischen Werke. Ich hatte den Eindruck, dass Jocasta sich nach dem Tod ihres Ehemannes von allen numidischen und römischen Dingen und Gewohnheiten befreite und sich auf ihre griechische Herkunft besann.
Wir setzten uns an einen kleinen Tisch, woraufhin sofort ein Sklave eine Platte mit Früchten brachte und jedem einen Becher gewässerten Wein reichte. Ich nahm einen Schluck, womit der gebotenen Höflichkeit Genüge getan war, und kam sofort zur Sache.
»Jocasta, du hast mir bei meinem letzten Besuch erzählt, dass du dich immer um Gaetos Geschäfte gekümmert hast wenn er auf Reisen war.«
»Genau«, bestätigte sie, »das habe ich dir erzählt.«
»Also hattest du im Laufe der Zeit mit all seinen Geschäftspartnern zu tun?«
»Ich denke schon.«
»Dann weißt du also auch, welcher römische Bürger als Gaetos Geschäftspartner fungiert hat?«
Sie antwortete, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.
»Natürlich. Es ist ein Mann namens Gratius Glabrio.«
Dass sie so schnell geantwortet hatte, bedeutete natürlich noch lange nicht, dass sie die Wahrheit sagte. »Glabrio sagst du? Ist er ein Bürger Baiaes? Oder kommt er aus Cumae oder Stabiae oder Pompeji?«
»O nein! Er lebt in Verona. Es wird noch Tage dauern, bis er überhaupt erfährt, dass Gaeto tot ist.«
»Das würde zumindest erklären, warum er der Bestattung ferngeblieben ist. Hast du eine Ahnung, warum über diese geschäftliche Verbindung im städtischen Archiv keine Urkunde vorliegt? Immerhin ist die Hinterlegung eines solchen Dokuments gesetzlich vorgeschrieben.«
»Nein«, erwiderte sie, »darüber weiß ich nichts. Diese Partnerschaft ist Gaeto bereits bei seinen ersten geschäftlichen Aktivitäten in Italia eingegangen, und
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