Mord im Spiegel
Vorgesetzten, wie du sie nennst, nichts dagegen haben, dass ich mich darüber mit dir unterhalte.«
»Sehr hübsch ausgedrückt, mein lieber Junge«, meinte Miss Marple.
»Ich werde dir eine kurze Zusammenfassung von dem geben, was man mir erzählt hat, und dann gehen wir die Liste durch.« Craddock berichtete Miss Marple genau und holte dann seine Liste aus der Tasche.
»Der Täter muss darunter sein«, sagte er. »Mein Pate, Sir Henry Clithering, hat mir erzählt, dass es hier mal eine Art Club gab. Der Dienstagabendclub hieß er, glaube ich. Ihr kamt jede Woche zusammen, und jemand erzählte eine Geschichte, eine Geschichte, die tatsächlich passiert war. Nur der Erzähler kannte die Lösung. Und jedes Mal sollst du sie erraten haben. Das ist auch ein Grund, warum ich hergekommen bin. Ich wäre dir dankbar, wenn du auch für mich ein wenig Rätsel raten würdest.«
»Es so auszudrücken, erscheint mir ein wenig unsachlich«, meinte Miss Marple vorwurfsvoll, »aber vorher möchte ich dir noch eine Frage stellen.«
»Und die wäre?«
»Was ist mit den Kindern?«
»Mit den Kindern? Sie hat nur eines. Es ist schwachsinnig und lebt in Amerika in einer Heilanstalt. War es das, was du wissen wolltest?«
»Nein. Natürlich ist das sehr traurig. Wieder so eine Tragödie, die einfach passiert und an der niemand Schuld hat. Nein, ich meine die Kinder, die in den Artikeln erwähnt werden.« Sie klopfte auf den Stoß Illustrierte vor sich. »Marina Gregg hat sie adoptiert – zwei Jungen und ein Mädchen. Im einen Fall war es eine Mutter mit einem Haufen Kinder und sehr wenig Geld. Sie schrieb ihr und fragte, ob sie nicht ein Kind haben wolle. Es wurden viele falsche und sentimentale Geschichten darüber geschrieben. Über die Selbstlosigkeit der Mutter und das schöne neue Zuhause, die gute Erziehung und die herrliche Zukunft, die das Kind haben würde. Über die anderen beiden habe ich nicht viel gefunden. Offenbar war das eine ein Flüchtling und das andere ein amerikanisches Kind. Die Gregg hat sie nicht alle zur gleichen Zeit adoptiert. Ich wüsste gern, was aus ihnen geworden ist.«
Craddock sah sie neugierig an. »Komisch, dass du daran gedacht hast«, sagte er. »Ich habe mir auch schon Gedanken darüber gemacht. Aber was sollten sie mit dem Fall zu tun haben?«
»Nun«, sagte Miss Marple, »soviel ich gehört und gelesen habe, leben sie nicht bei ihr.«
»Sicherlich hat sie gut für sie gesorgt«, meinte Craddock. »Die Gesetze zur Adoption eines Kindes sind da sehr streng. Wahrscheinlich wurde irgendeine Stiftung für sie eingerichtet.«
»Als sie sie – satt hatte«, sagte Miss Marple mit einer kleinen Pause vor dem Wort »satt«, »schob sie sie ab! Nachdem die Kinder in Luxus und mit allen Privilegien der reichen Leute erzogen worden waren. Trifft das zu?«
»Vermutlich. Ich weiß es nicht genau.« Immer noch sah er sie verwundert an.
»Kinder sind sehr feinfühlig, weißt du«, fuhr Miss Marple fort und nickte nachdrücklich, »sie sind viel feinfühliger, als die Erwachsenen glauben. Sie spüren es sehr genau, wenn sie ungerecht behandelt werden, nicht erwünscht sind oder zurückgestoßen werden. So etwas vergisst man nicht, nur weil man dafür andere Vorteile hat, wie zum Beispiel eine gute Erziehung oder ein angenehmes Leben, ein sicheres Einkommen oder eine Berufsausbildung. Das nagt an einem.«
»Ja, schon. Trotzdem – ist diese Möglichkeit nicht etwas weit hergeholt? Zu glauben, dass… Ja, was glaubst du eigentlich?«
»So weit bin ich noch nicht«, antwortete Miss Marple. »Ich habe mich nur gefragt, wo sie stecken und wie alt sie wohl heute sind. Nach allem, was ich gelesen habe, müssten sie erwachsen sein.«
»Das ließe sich feststellen«, erwiderte Craddock langsam.
»Ach, ich möchte dir keine Mühe machen oder gar andeuten, dass diese Idee überhaupt der Rede wert ist.«
»Es kann nichts schaden, wenn wir nachforschen.« Er machte sich eine Notiz. »Möchtest du dir nun meine Liste ansehen?«
»Ich glaube nicht, dass ich dir viel helfen kann. Ich kenne die Leute doch gar nicht.«
»Ich werde dir jedes Mal einen Kommentar dazu liefern«, sagte Craddock. »Also los! Da hätten wir zum Beispiel Jason Rudd. Alle Leute behaupten, dass er sie anbetet. Das allein ist schon verdächtig, findest du nicht auch?«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Miss Marple mit Würde.
»Er hat mit allen Mitteln versucht, die Tatsache zu vertuschen, dass seine Frau das wahre Opfer des Mordanschlags
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