Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm
nie jemand ermitteln konnte. Aus einer Richtung, aus welcher der Schütze sein Opfer eigentlich gut hätte sehen müssen, als er den Schuss abgab.«
Wald. Die einzelnen Bäume. Felsige Anhöhen bedeckt von Moos und Heidelbeerkraut. Jagd mit Gewehr. Im Rucksack Kaffee und Butterbrote. Der Jagdgesellschaft zugehörig, inzwischen der beste Jäger der Gegend, ungewöhnlich zielsicher. Eine schon fast künstlerische Präzision. Papas mit den Jahren immer zufriedeneres Lächeln, wenn ihm die anderen auf die Schulter klopften. Er hatte ihn doch noch hingekriegt! Es waren nur eine feste Hand und erzieherische Verwegenheit nötig gewesen. Er hatte ihn zu einem richtigen Kerl gemacht. Das sagte er aber nur, wenn Mama es nicht hörte, obwohl sie eine solche Bemerkung ignoriert hätte. Papa mied nicht die Reaktionen, sondern ihr Ausbleiben.
Dieser Morgen. Kalt und grau, tiefhängende Wolken, die sich in den Tannenwipfeln verfingen und zerfaserten. Feuchte Erde unter den Füßen. Tannennadeln und Tannenzapfen in Zickzackmuster auf den Pfaden, furchtlose und verwegene Jäger. Sie hatten die Hochsitze unter sich aufgeteilt und warteten Stunde um Stunde auf Wild, das kommen würde oder auch nicht. Der Bär hatte sich selten gezeigt, manchmal zweifelten sie bereits an seiner Existenz, aber die Spuren waren eindeutig. Zerfleischte Tierkadaver. Auf die Weiden war er vorgedrungen. Der Hunger würde ihn zu noch grausameren Taten treiben. Es war besser, ihm zuvorzukommen.
Er hatte seinen Standort mit Sorgfalt gewählt. Er besaß einen guten Überblick über das Gelände und die anderen. Er witterte die näher kommende Beute, noch bevor er sie sah. Schließlich war sie unausweichlich. Der breite Rücken. Die Muskeln. Die Zweige, die unter den kräftigen Füßen knackten. Das lockige Haar. Der Pelz. Er hatte genau gezielt, sein Finger hatte nicht im Geringsten gezittert, und abgedrückt. Das Wild war getroffen. Danach Stille und Warten.
Mehrere Stunden vergingen, dann die Aufgeregtheit der anderen. Die Schreie und das verzweifelte und unnötige Hilfeholen. Papa lag mit einem Stirnschuss auf dem Weg. Der Bär war angeschossen, aber frei. Er wurde mehrere Tage später sterbend in einer Felsspalte mehrere Kilometer entfernt gefunden. Er bekam das Fell.
»Du weißt genauso gut wie ich, dass nie geklärt wurde, wer diesen Schuss abgefeuert hat. Kaum ein Verdacht fiel auf mich, da mein Posten am weitesten entfernt lag.«
»Du hast gesagt, dass du nicht geschossen hast, aber hast du getrauert?«
Miranda hatte bei diesen Worten gelächelt, und in diesem Augenblick hatte er sie verabscheut. Er wünschte sich, dass sie ihn mit ihrer Exzentrik verschonte. Mari konnte jeden Augenblick kommen, und er wollte sich auf sie konzentrieren können, ohne dass Miranda ihm wie immer die Show stahl. Dies hier war nicht der richtige Augenblick, um sie vorzustellen.
Am Telefon hatte Mari verzweifelt geklungen. Sie berichtete, Kleopatras Kamm habe einen neuen Auftrag erhalten, und dann erzählte sie etwas von einem alten Mann, dessen Frau im Krankenhaus läge. Sie sprach unzusammenhängend, von einem Versprechen, das eingelöst werden müsse. Nach einer Weile bat er sie, herzukommen. Ins Fata Morgana. In das Lokal in der Altstadt, seinen Zufluchtsort, den er bislang geheim gehalten hatte. Sie war zunächst erstaunt, hatte dann aber zugesagt, so schnell wie möglich zu kommen. Und nun wartete er.
Fredrik schaute hoch und sah, dass Michael sich dem Tisch näherte. Er trug einen dunklen Anzug, ein graues Hemd und glänzende Lackschuhe. Das weiße Haar war zurückgekämmt und ließ das Gesicht irgendwie nackt erscheinen. Fredrik sah die Falten auf seiner Stirn, die tiefer geworden waren, aber Michael war immer noch ein attraktiver Mann, der sich geschmeidig
zwischen den Tischen bewegte und Hände schüttelte oder jemandem seine Hand auf den Arm legte. Michael besaß ein hageres Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer spitzen Nase. Die Konturen seines Mundes verstärkten den Eindruck, es mit einem Raubvogel zu tun zu haben. Einem netten Raubvogel um die fünfundsechzig. Michael setzte sich neben ihn und lehnte sich in das fleischrosa Polster seines Sessels zurück.
»Wie geht’s, Fredrik?«, fragte er mit leichtem deutschen Akzent. Fredrik dachte darüber nach, wie lange Michael wohl schon in Schweden wohnte. Lang genug, um assimiliert zu sein, kurz genug, um nicht nur in der Vergnügungsbranche in Schweden, sondern auch im Ausland aktiv zu sein. Er wusste,
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