Mordlast
über und das wiederum in einen breiten Flur, der in einer Garderobe neben der Wohnungstür endete. Wohnzimmer und Flur konnten mit einer matten Glasschiebetür getrennt werden, die jetzt jedoch offen stand und den Blick in den Garten hinter dem Haus freigab.
Ólafur Davídsson hatte sich auf der Fahrt gefragt, warum sie hier noch nie zuvor gewesen waren. Engbers hatte Iris Schrauder immer in die Keithstraße bestellt, und so war ihm diese Wohnung verborgen geblieben, die überhaupt nicht zu den altbackenen Kleidern und der Wohnung in den Ceciliengärten passte. Vermutlich wäre ihm sonst schon früher bewusst geworden, dass diese Frau Geheimnisse hatte, die es aufzudecken galt.
»Was wollen Sie von mir?«
»Ehrliche Antworten.« Engbers setzte sich auf einen Zweisitzer neben einer futuristischen Lampe, die als Pendel von der Decke hing und zehn Zentimeter über dem Boden schwebte.
Sie lachte gekünstelt auf.
»Wir wissen, dass Sie uns die ganze Zeit über angelogen haben. Wir wissen, dass Sie in Wahrheit Iris Schrauder heißen und dass nicht Sie ein Stalkingopfer von Bernd Propstmeyer waren, sondern er eines von Ihnen.« Engbers beobachtete ihre Gesichtszüge, die jetzt von der tief stehenden Sonne über dem Garten angeleuchtet wurden. Das Sonnenlicht schaffte es nicht, sie zu erhellen. Er blickte auf eine steinerne Maske.
»Sie scheinen ja jetzt zu wissen, was Sie wissen wollten.«
Sie sah nach draußen und für einen Moment, in dem die Sonnenstrahlen auf ihre Augen trafen, veränderten sich ihre Gesichtszüge.
Davídsson hatte sich neben sie auf einen zweiten Sessel gesetzt, der dem Zweisitzer und der weißen Wand gegenüberstand. Es gab in dem ganzen Raum keine Bilder. Nur weiße Wände und weiße Decken. In der Küche brummte leise ein Kühlschrank, sonst war es ruhig.
»Ich hatte mir so sehr gewünscht, dass er mich liebt und nicht meine Schwester.«
»Sie hatten alles, was er brauchte«, sagte Davídsson wie zur Bestätigung.
»Ja.«
»Aber er wollte es nicht.«
»Nein. Er wollte es nicht.«
»Warum nicht?«
Sie sah jetzt wieder zu Engbers und dann zu Ólafur Davídsson.
»Ich weiß es nicht.«
»Sie wissen warum.«
Sie lächelte.
»Sie war anders … Sie war irgendwie anders als ich. Schon immer.«
»Und als Sie ihn nicht bekommen konnten, haben Sie ihn umgebracht.«
In ihren Augen blitzte eine Träne auf. Die Sonne schien durch den Tropfen hindurch, der ihre Wange hinablief. Ein Regenbogen war kurz zu sehen.
»Ich habe ihn nicht umgebracht. Ich habe ihn doch geliebt. Ich wollte nicht leben. Nicht ohne ihn …«
»Sie lügen schon wieder.«
Sie wischte sich eine neue Träne aus den Augen. Davídsson fragte sich, ob sie ihnen etwas vorspielte oder ob sie jetzt ehrlich war.
»Ich habe ihn nicht umgebracht.«
»Warum dort? Warum der Schwerbelastungskörper?«
»Meine Schwester, Evelyn. Sie haben sich dort kennengelernt.«
»Wann?«
»Bei einer Führung.«
»Es gab damals noch keine Führungen. Frau Schrauder, wir wissen, dass Lukas der Sohn Ihrer Schwester ist. Er ist siebzehn. Der Schwerbelastungskörper steht erst seit 1995 unter Denkmalschutz. Davor ist er verrottet und niemand hat sich um ihn gekümmert. Vor allem gab es keine Führungen.«
»Er hat sie durch den Schwerbelastungskörper geführt. Ich war dabei. Wir hatten damals eine kleine Laube im Gartenverein und er hat ihn uns gezeigt. Sein Vater hatte irgendetwas damit zu tun.«
»Also war es für Sie ja ganz einfach, ihn dorthin zu locken, um ihn umzubringen.«
»NEIN!«
»Sie hatten ein Motiv. Eifersucht.«
»Nein. Ich habe ihn nicht umgebracht. Ich konnte ihm nichts antun. Ich habe ihn geliebt. Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?«
»Sie haben uns einmal zu oft angelogen, Frau Schrauder. Wir glauben Ihnen nicht mehr.«
»Ich war es nicht. Ich bin an seinem Tod zugrunde gegangen. Verstehen Sie nicht? Ich bin innerlich mit ihm gestorben.«
Siegbert Engbers seufzte laut.
Davídsson wunderte sich, dass das die einzige Reaktion war. Er konnte sich selbst kaum noch unter Kontrolle halten und hatte das Katz-und-Maus-Spiel endgültig satt.
Wenn das hier vorbei ist, genieße ich den letzten Tag mit meiner Schwester, überlegte er. Sie braucht das. Und ich auch.
Iris Schrauder saß regungslos neben ihm und wartete.
Ólafur Davídsson sah sich weiter in der Wohnung um.
Auf der anderen Seite des Wohnzimmers gab es eine kleine Essecke aus hellem Holz. Dort standen eine lange Tafel und acht Stühle und eine große
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