Morgenrot
kristallisierte Nebeltropfen machten das Atmen zur Qual.
Lea war froh über jede Ablenkung, sogar darüber, dass sie mehr schlitterte als ging und dass sie in der Eile, Adam zu folgen, ihren Schal vergessen hatte und nun erbärmlich fror. Ihr war alles recht, was sie davon abhielt, über das eben Erlebte und Gehörte nachzudenken. Adams Gestalt an ihrer Seite schien ihr zu flüchtig. Beinahe unwirklich, bloß ein Schatten in ihren Augenwinkeln, dessen feste Schritte kein zersplitterndes Krachen auf der hauchdünnen Eisschicht verursachten.
Sie ließen die Hochhäuser hinter sich, die vom Dauerfrost mürben Straßen wurden allmählich enger, ältere Häuser folgten immer dichter aufeinander, schäbig und verlassen. Lea hatte nicht die geringste Ahnung, in welchem Viertel der Stadt sie sich eigentlich befanden. Sie achtete nicht einmal darauf, welche Richtung Adam einschlug.
Als Adam einen Spaziergang vorschlagen hatte, hatte sie sich erleichtert die dicken Sachen übergezogen und war zur Tür hinausgestürzt. Keine Minute länger hätte sie es in dem überheizten Raum ausgehalten, der um sie herum zu schrumpfen schien. Eine giftige Zelle, die zur Bühne von etwas schier Unaussprechlichem geworden war. Vor der Tür hatte Adams Kleidung gelagert, und während er danach gegriffen hatte, war Lea wieder dieser schwere Geruch in die Nase gestiegen. Obwohl sie rasch den Kopf abgewendet hatte, waren ihr die dunklen Schlieren nicht entgangen, die der Teppich aufgesogen hatte. Zweifelsohne war Adams Kleidung blutdurchtränkt.
Um diese Erinnerung zu verscheuchen, beschleunigte Lea nun ihre Schritte. Sie hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren, wenn sie Adam nicht an ihrer Seite spürte. Denn wenn sie das verbotene Wort aussprach, das seit seinem Geständnis unentwegt in ihrem Kopf kreiste, dann würde zumindest das Universum implodieren. Oder schlimmer noch:Adam wäre plötzlich fort, würde sich innerhalb eines Sekundenbruchteils in nichts auflösen. Und dieses Mal konnte sie nicht darauf hoffen, dass etwas flirrender Engelstaub zurückblieb. Deshalb brachte Lea alles in sich zum Schweigen, damit Adam weiterhin existieren konnte.
Nach einer Weile erreichten sie einen Kanal, und Adam blieb mitten auf der breiten Brücke stehen. Die frische Schneedecke reichte ihm bis über die Knöchel, darunter verbarg sich eine dicke Schicht von unzähligen Füßen fest getretenen Schnees. Ein Eisbrecher schob sich im Kanal mühsam durch die gerade erst verheilte Eisdecke und zog eine Spur der Zerstörung hinter sich her: Große Eisstücke wogten im dunklen Wasser auf und ab und schimmerten gelblich schwarz im unsteten Laternenschein. An den Rändern der Fahrrinne schoben sich ächzend Eisplatten unter- und übereinander, so dass ein wirres, gefährlich gezacktes Muster entstand. Ein dumpfes Grollen drang vom Wasser her, noch lange nachdem der Eisbrecher flussaufwärts im Nebel verschwunden war.
Schweigend beobachtete Adam das Spiel des brechenden Eises, während Lea seine bloßen Hände anstarrte, die auf dem weiß überzogenen Eisengeländer ruhten. Die aufgesprungenen Fingerknöchel waren inzwischen fast wieder verheilt. Schließlich packte sie seine Handgelenke und drückte sie sanft nach unten, damit er das Geländer freigab.
Erstaunt sah Adam sie an. Die erste Regung in seinem Gesicht, seit er vor Leas Tür in seine blutverschmierte Kleidung geschlüpft war. »Keine Sorge«, sagte er belustigt. »Meine Hände werden ganz bestimmt nicht daran festfrieren.«
»Genau das macht mich ja so nervös«, entgegnete Lea. Erstaunt registrierte sie, dass ihre Stimme unvermutet gelassen klang.
Adam betrachtete sie nachdenklich. »Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass dir mein Geständnis mehr zu schaffen machen würde. Schließlich widerspricht es den Naturgesetzen ...«
»Vielleicht hat mir ja die Romantik schon den Verstand verdreht: Sandmänner, Schattenlose und all die anderen Schauergestalten.Vollkommen abgehärtet gegenüber den Geheimnissen der Dunkelheit«, sagte sie, als dächte sie an eine Vorlesung an der Universität. »Wahrscheinlich bin ich besser als jeder andere darauf vorbereitet, dass das Unheimliche jederzeit ins Leben einbrechen kann. Und dabei hat meine Mutter immer behauptet, dass die ganze Zeit, die ich mit dem Lesen von Schauergeschichten zugebracht habe, verschwendet wäre.«
Plötzlich spürte Lea einen Druck in ihrer Kehle aufsteigen, der schließlich als Lachen hervorbrach. Es wurde lauter und lauter,
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