Morgenrot
Als sie endlich eine Kreuzung mit einer größeren Querstraße erreichte, stiegen ihr Tränen in die Augen. Auch wenn bei Nacht und durch den Schnee alles gleich aussah, wusste sie nun ungefähr, wo sie sich befand: Sie hatte lediglich ein paar hundert Meter Abstand zwischen Professor Carrieres Haus und ihren entkräfteten Körper gebracht. Nicht annähernd weit genug.
Plötzlich tauchten die Lichter eines Wagens vor ihr auf, der leicht schlingernd auf der verschneiten Straße auf sie zukam. Augenblicklich keimte Hoffnung in Lea auf und gab ihr einen Energieschub, den sie eben noch für unmöglich gehalten hätte. Sie sprintete los.
In diesem Moment fühlte sie, wie etwas sie von hinten zu greifen versuchte und sie um Haaresbreite verfehlte. Sie hörte ein frustriertes Keuchen, gefolgt von einem Knirschen, das ihren Körper mit einer Gänsehaut überzog. Doch es scherte sie nicht, was hinter ihr in der dunklen Gasse geschah. Sie hatte nur noch Augen für das herannahende Auto.
Mehr fallend als rennend, erreichte sie endlich die breite Querstraße, wedelte wie wild mit den Armen und stürmte schreiend auf den Wagen zu. Die Bremsen des alten VW wurden voll durchgetreten, er drehte sich um die eigene Achse und kam rumpelnd kurz vor ihr zum Stehen. Die Fahrertür ging auf, und der Oberkörper eines dick vermummten Mannes tauchte auf. In dem rot glänzenden Gesicht prangte unter einem Schnauzbart ein gut gelauntes Lächeln. Er rief Lea etwas zu, das sie nicht verstand, aber das war ihr herzlich egal. Sie riss die hintere Tür auf und blickte auf eine Rückbank, die mit drei stämmigen Männern restlos überfüllt war. Eine Wolke aus Alkohol und Zwiebeln schlug ihr entgegen, begleitet von Lachen.
Lea zögerte einen Moment.
Dann hörte sie jemanden ihren Namen rufen.
Adam rief ihren Namen.
Mit einem Satz sprang Lea auf den Schoß von einem der Männer und zog die Tür hinter sich zu. Das sofort einsetzende Gegröle ignorierend, schrie sie dem Fahrer etwas zu, dass hoffentlich »Beeilung« hieß.
Der Fahrer lehnte immer noch zur Tür hinaus, aber mit einem Mal verging ihm das Lachen. Lea wollte gar nicht wissen, was er wohl gesehen hatte, sondern brüllte ihn einfach weiter an. Mit ungeahnter Schnelligkeit zog der Mann die Tür zu, legte einen Gang ein und trat so heftig aufs Gas, dass die Räder im Schnee durchdrehten. Es kostete ihn sichtlich Beherrschung, den Fuß ein wenig zurückzunehmen und die Kupplung langsam kommen zu lassen. Dann endlich fuhr der Wagen an, beschleunigte zu Leas Erleichterung zunehmend und ließ die dunkle Seitengasse zurück.
Regungslos starrte Lea auf den Hinterkopf des Fahrers und zwang sich dazu, keinen letzten Blick zurück in die Dunkelheit zu werfen. Es war ihr gleich, dass dort draußen irgendwo ihr Name gerufen wurde. Sie war entkommen.
6. Die Rückkehr
»Es ist schön, dich wiederzusehen.«
In dem Moment, als das Nervengeflecht in Leas Schulter durch Adams Berührung aufflammte, sprang sie auf. Benommen registrierte sie, wie das dabei umgeworfene Weinglas im Zeitlupentempo zu Boden schwebte und in unzählige Splitter zerbarst, die ihre schwarzen Satinpumps wie mit Diamanten verzierten. Sie wartete auf das Klirren des Glases, während sie im Rücken den Widerstand von Adams Körper spürte. Mit einem festen Griff umfasste er ihre Oberarme und zog sie noch näher an sich heran. So stand Lea da, den Rücken an Adams Brust gelehnt gefangen.
Unwillkürlich entwich ihr ein schwaches Keuchen. Zu lautstarkem Protest fehlte ihr die Kraft. Sie fühlte sich wie eine Stoffpuppe, die willenlos in sich zusammensacken würde, sobald Adam den Griff um ihre Arme gelockert hätte.
Lea spürte einen Atemzug an der Ohrmuschel, und ihre Nasenflügel flatterten unwillkürlich in der Hoffnung, Adams vertrauten Duft einzufangen. Von dort, wo seine Hände ihre nackten Arme berührten, verströmte die Haut kribbelnde Wellen bis hinab in die Zehenspitzen. Entsetzt nahm sie wahr, wie ihr Körper einen schmutzigen Verrat an ihr beging: Nach all der Zeit reagierten immer noch all ihre Sinne auf Adams Nähe.
Als gehe ihm der gleiche Gedanke durch den Kopf, flüsterte Adam ihr zu: »Ich wusste, dass du dich freuen würdest, mich wiederzusehen.« Dabei lockerte er den Griff, und seine Finger begannen, sanft über Leas Arme zu streicheln. »Wir könnten einen gemeinsamen Spaziergang unternehmen. Die frische Luft würde dir guttun.«
»Ein Drink würde mir guttun«, gab Lea mit brüchiger Stimme zurück.
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