Morpheus #2
sehen.
«Und wo ist deine Pistole?», fragte der Junge mit großen Augen.
«Sie liegt im Wagen. Möchtest du sie sehen?»
Der Junge nickte.
«Mommy sagt, wir sollen nicht mit Fremden reden», warf das kleine Mädchen unsicher ein. Sie zupfte an ihrem Rock herum und sah sich in Richtung Spielplatz um.
«Aber ich bin doch kein Fremder. Ich bin euer Freund», sagte der Mann lächelnd. Dann griff er in die Tasche und zeigte ihnen seine glänzende Marke als Beweis.
ZWEIUNDSIEBZIG
Ricardo Brueto bekam Herzklopfen, als er die Nummer auf dem Display sah. Er zögerte einen Moment, ließ es klingeln. Er wusste, was kam. Er wusste, dass sich seine Zukunft radikal änderte, wenn er jetzt dranging. Vielleicht wollte er den Augenblick aufschieben.
Dann war es still.
Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und sah sich um, ob ihn jemand im Club beobachtet hatte. Doch es war niemand da, nur ein paar Barkeeper, die ihren Lohn abholten, und die Putzkolonne, die Tanzfläche und Theke für den Abend sauber machten. Er starrte das Telefon an, dann ging er an den mannshohen Kühlschrank hinter dem Tresen und nahm sich ein Budweiser heraus. Mit einem Zug trank er die halbe Flasche aus.
Er wünschte, er wäre schon betrunken und hätte den Zustand erreicht, in dem Entscheidungen leicht zu treffen waren, ohne finstere Zukunftsvisionen.
Doch er hatte noch nicht genug getrunken. Noch lange nicht. Mit dem zweiten Schluck leerte er die Flasche, dann schenkte er sich ein Glas Jack Daniels ein.
Er setzte sich wieder auf den Barhocker und wartete darauf, dass das Handy in seiner Hand vibrierte. Er wusste genau, dass der andere es heute Abend noch einmal versuchen würde, und ein zweites Mal konnte er ihn nicht warten lassen. Nein, das ging nicht. Er musste eine Entscheidung treffen, ob er wollte oder nicht. Ans Telefon zu gehen, das war schon die Entscheidung. Diese Leute waren kranke Perverse, aber er musste tun, was sie von ihm ver-langten. Und dann gab es keinen Weg zurück.
Über ihm machte der DJ einen Soundcheck, doch Rico hörte nichts. Er hatte nur das Geschrei seines jüngsten Sohns im Ohr und Angelinas Flehen, sie sollten endlich ein neues Leben anfangen.
Sie könnten nach Chicago gehen und bei ihrer Schwester unterkommen. Von vorn anfangen, bevor er wieder verhaftet wurde oder noch Schlimmeres passierte.
Zweihundert große Scheine. Das war verdammt viel Geld. Damit könnte er sich einen coolen Schlit-ten kaufen und vielleicht ein Haus für Angelina und einen Haufen Windeln für Rico junior. Das würde ihm endgültig Respekt verschaffen vor denen, die noch keine Angst vor ihm hatten. Er schenkte sich noch ein Glas Whiskey ein und fragte sich, warum er die Antwort auf die verdammten Fragen so lange aufgeschoben hatte. Warum musste er die größte Entscheidung seines Lebens zwischen zwei Tele-fonanrufen treffen?
Er wusste, Angelina hatte Recht. Wenn er in Miami blieb, würde sich die Geschichte wiederholen.
Seine Kinder würden die gleichen Narben davon-tragen wie er. Mit zwölf würden sie einer Gang nachlaufen, sich allein auf der Straße durchschla-gen, und ein Jahr später trugen sie in der Lunchbox eine Beretta mit sich rum. Mit siebzehn bekamen sie dann Kinder und wünschten sich manchmal, sie wären nie geboren worden. Sie würden nichts erreichen, aus ihnen würde nichts werden. Dem Leben hier entkamen sie nicht, denn das schaffte keiner.
Dies war die Stunde der Entscheidung. Wenn er wirklich wollte, dass sie mal ein besseres Leben hätten, dann musste er jetzt gehen.
Langsam wurde sein Kopf leichter, der Alkohol half durchzuatmen. Er war nicht mehr so verdammt nervös. Er schenkte sich noch ein Glas ein.
In weniger als einer Stunde würde das Channel rocken. Nur rockte es in letzter Zeit nicht mehr so, wie es sollte. Seit diese Cops umgelegt worden waren, war es still geworden auf den Straßen, nichts kam rein, nichts ging raus. Die Leute besorgten sich ihr Zeug im Norden oder außerhalb der Stadt. Alle waren nervös. Der Anruf hätte eigentlich längst kommen müssen. Wenn die Flaute sich noch länger hinzog und die Cops weiterhin rund um die Uhr an ihm klebten, müsste er bald befürchten, dass sein Arsch bei irgendeinem Friedenspakt das Sahne-häubchen wäre. Noch ein Grund, ans Telefon zu gehen. Wenigstens wusste er, dass heute Nacht nicht er die Mündung einer Magnum lutschen würde.
Er hatte einen Namen in Miami. Er hatte Cash. Er ließ sich nicht verarschen. Einem Gang-Boss das Maul zu
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