Morphin
irgendeinem Menschen etwas schuldig? Die Menschen begegnen sich nicht, jeder Mensch ist seine eigene, kleine Welt, niemand ist dem anderen etwas schuldig.
Du bist Hela nichts schuldig und nicht Jureczek, bist Jacek nichts schuldig, und niemand ist dir etwas schuldig. Du bist allein geboren und wirst allein sterben. Es ist eine Illusion, dass irgendjemand dir irgendwann etwas Gutes getan hätte. Dass deine Mutter dich als Kleinkind gestillt hat? Sie hat dich gestillt, weil sie deinen Hunger nicht ertragen hätte. Was hat es dir gebracht, dass du als Kind nicht gestorben bist? Was bringt alles Gute, das man uns tut, wenn es doch nur unser Leid verlängert und die Illusion nährt, wir könnten zu Lebzeiten glücklich werden?
Auch das Böse brauchst du nicht heimzuzahlen, bist keine Rache schuldig.
Ich stehe auf.
«Ruf mich an, wenn du etwas hast», sage ich ohne Überzeugung, dass die Worte überhaupt zu ihm dringen.
Und gehe nach Hause. Jacek hat sich bestimmt nicht einmal die Mühe gemacht, die Tür hinter mir zu schließen.
Ich steige die Treppe hoch, unsere Wohnungstür ist angelehnt. Es läuft mir kalt den Rücken hinunter. Ich stelle mir vor, der nationaldemokratische Posener Schwiegervater könnte drin mit dem Revolver auf mich warten. Oder ein deutscher Polizist mit Handschellen, um mich für den grausamen Mord an Kajetan Tumanowicz zu verhaften.
Auf mich wartet jedoch nur der Ingenieur, wie ich feststelle, als ich die Angst überwinde und die Wohnung betrete. In meinen Sessel gefläzt, die Beine übereinandergeschlagen, wippt er mit Fuß und Unterschenkel, der in einem chromledernen Offiziersschuh steckt.
Ich grüße und versuche, meine Überraschung zu verbergen. Der Ingenieur kommt sofort zur Sache. «Haben Sie sich in der Fredro angemeldet?» Die Frage klingt in Anbetracht seiner früheren Allwissenheit seltsam.
Als Antwort zeige ich die Kennkarte. Witkowski studiert das Dokument, als stünde mindestens ein halber Roman darin.
«Der Name sollte doch Strachwitz lauten!», sagt er unwillig. «Und außerdem, wie hast du diesen Ausweis in nur zwei Tagen gekriegt?»
Höre ich Argwohn in seiner Frage?
«Das ist nicht Ihre Angelegenheit, mit Verlaub», erwidere ich zu meiner eigenen Überraschung mit fester Stimme. «Der Auftrag ist erfüllt.»
Witkowski verschlägt es für einen Augenblick die Sprache, seine Lippen bewegen sich, als zerkaue er etwas, winden sich wie Regenwürmer in der Pfütze. Plötzlich steht er auf, geht ans Fenster, sieht hinaus und macht eine wegwerfende Bewegung.
«Wir werden Sie vereidigen», sagt er.
Und das tun sie. Ein grauer, hagerer Mann mit Pilotenmütze und altmodischem Pudermantel mit Militärgürtel tritt in die Wohnung. Auch er trägt eine runde Drahtbrille, Witkowski stellt ihn als den Fahrer vor.
Die Hand hat er in der Manteltasche, wieder diese gespannte Andeutung eines Fingers am Abzug, er behält sie da die ganze Zeit, während ich den Eid ablege, und ich weiß selbst nicht mehr, ob das Theater ist oder ob er wirklich bereit wäre, mich zu erschießen.
Das weißt du, Kostek, das weißt du. All das ist Theater, der Krieg ist Theater, der Eid ist Theater, die Konspiration ist Theater, die Deutschen sind Theater.
Aber wenn das Theater ist, frage ich mich, was ist dann wirklich, als ich im Namen des Allmächtigen Herrn in Seiner Dreifaltigkeit und der Heiligen Maria Mutter Gottes schwöre, was ist wirklich, bin ich wirklich?
Bin ich denn wirklich? Wir sind Kreise auf dem Wasser.
Ich gelobe also zu kämpfen, nicht zu ruhen, Befehle auszuführen, mein Leben zu geben, gelobe alles, was man in solchen Situationen schwört, die ganze Scheiße, Vaterland, Krieg, unverbrüchlich, unermüdlich bis zum letzten Blutstropfen, Organisation, Unabhängigkeit, Einheit der Grenzen.
Und was ist wirklich? Es gibt keine Welt und gibt mich nicht, Gelöbnis im Schattentheater, Kreise auf dem Wasser, Worte im Wind.
«Sechsundfünfzig ist dein Deckname», flüstert Witkowski. «In der Organisation duzen wir uns.»
Ich zucke mit den Schultern.
«Ich habe eine erste Aufgabe für dich. Nach Krakau fahren, eine gewisse Rochacewicz hat dort Geld für uns. Einhunderttausend Dollar. Einhunderttausend! In deinen Händen wird es am sichersten sein.»
Sicher in meinen Händen. Wirklich? Ich bin schließlich ein anderer Mensch. Rochacewicz? Wie der Herrenhof, auf dem ich Iga kennengelernt habe.
«Wie finde ich sie dort?»
«Du bist Offizier der Aufklärung. Das wirst du schon
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