Mr. Postman
deutlich zu erkennen. Da musste sie schon zu Fuß gehen und sich die Fassaden genauer betrachten. Deshalb ließ sie den Fahrer halten.
»Sind wir denn schon da?«
»Nein, nicht direkt. Ich gehe den Rest der Strecke. Das Wetter ist ja wunderbar.«
»Stimmt. Und hier wird Ihnen auch nichts passieren, Madam. Eine ruhige Gegend. Nur für mich nicht zu bezahlen.«
Glenda seufzte. »Für mich auch nicht.«
Sie zahlte die Rechnung, gab ein Trinkgeld hinzu und verließ den Wagen. Auf dem Gehsteig blieb Glenda Perkins stehen und schaute den Heckleuchten nach. Sie amtete tief durch. Hier stank es nicht nach Abgasen. Die Straße wirkte wie aus dem Bilderbuch entsprungen. Die hohen Laubbäume, die Gehsteige, die Vorgärten, dahinter die Häuser.
Alt und modern gemischt. Die älteren mit ihren Erkern, die ebenfalls aus rotem Backstein gebaut worden waren wie die übrigen Fassaden.
Bei den neuen Häusern hatte man das Material auch verwendet, allerdings in einem etwas helleren Farbton. Es war deshalb zu erkennen, weil an den Hauswänden Laternen und Lampen ihr Licht abstreuten.
Muriel Drake wohnte in einem der älteren und renovierten Häuser. Es gehörte ihr nicht. Die junge Familie hatte dort eine Wohnung gemietet und fühlte sich ausgesprochen wohl, wie Muriel Glenda am Telefon berichtet hatte. Auf der richtigen Seite befand sie sich schon. Es war die mit den geraden Hausnummern. Allerdings musste sie noch einige Meter gehen, um ihr Ziel zu erreichen.
Es war ruhig in der Gegend. Autos fuhren kaum mehr. Und wenn, dann rollten sie langsam über die Straße, auf der kein Durchgangsverkehr herrschte.
Glenda hatte sich zwar leicht angezogen, aber nicht zu sommerlich.
Ihre Brille lag im Büro, und noch immer musste sie über Johns Gesicht lächeln, das er am Morgen aufgesetzt hatte. Sie trug ein beiges Kostüm, dessen Rock kurz über den Knien endete. Unter der Jacke hatte sie ein lindfarbenes T-Shirt angezogen, dessen Stoff nicht zu dünn war. Einen genauen Zeitpunkt hatte Glenda mit Muriel Drake nicht abgemacht, nur eine ungefähre Uhrzeit, und die würde sie einhalten können.
Sie schlenderte über den Bürgersteig, schaute sich immer wieder die Fassaden der Häuser an so gut es möglich war und schritt auch unter dem Astwerk breite Laubbäume hinweg.
Ein Paar kam ihr entgegen. Der Mann hatte seinen Arm um die Schultern der Frau gelegt. Beide schauten sich beim Gehen an und hatten keinen Blick für die Umgebung. Sie nahmen Glenda nicht einmal wahr, so verliebt waren sie.
Die Sekretärin musste lächeln. Es fiel etwas verhalten aus, denn sie dachte daran, dass sie sich nicht in festen Händen befand, obwohl es Gelegenheiten genug für sie gegeben hätte. Nur konnte sie sich nicht entscheiden. Es war beileibe nicht so, dass sich keine Gelegenheiten ergeben hätten, nein, daran lag es nicht. Es ging auch um John Sinclair.
Beide mochten sich. Beide wussten aber auch, dass eine Heirat nicht in Frage kam. Wenn Glenda sich anderweitig band, dann kam sie sich vor wie jemand mit schlechtem Gewissen. Außerdem würde sie ihrem Ehemann vielleicht nicht das geben können, was er verdiente, denn zwischen ihnen stand noch immer der Job, den sie nach wie vor liebte, der auch für sie nicht an Zeiten unbedingt gebunden war, und sie dachte auch daran, wie oft sie in gefährliche und haarsträubende Situationen hineingeraten war, in denen sie nur ganz knapp mit dem Leben davongekommen war.
Sie hatte sich irgendwie mit ihrem ›Schicksal‹ abgefunden und fühlte sich dabei sogar recht wohl.
Der Maiabend war nicht zu warm und nicht zu kühl. Ihre Laune war optimal. Sie hatte den Eindruck, den Frühling riechen zu können, der über dieser Gegend lag wie ein unsichtbares Tuch.
Nachdem das Paar sie passiert hatte, war ihr niemand entgegengekommen. Sie befand sich allein auf dem Gehsteig und integriert in diese wunderbare Umgebung. Das eigentliche London, das wirkliche, das war für sie so weit weg. Das gab es kaum. Sie konnte es sich zumindest nicht vorstellen. Es gab auch keinen Lärm, keine laute Musik, keine schreienden Stimmen und auch keine Motorradfahrer, die mit ihren heulenden Maschinen die Ruhe der Umgebung störten.
Dafür gab es den Mann. Glenda sah ihn plötzlich vor sich. Sie hatte auch nicht mitbekommen, woher er auf einmal gekommen war. Ob aus einem Vorgarten oder hinter einem der Baumstämme hervor. Jedenfalls war er da, und er lief genau in ihre Richtung.
Eine sehr dunkle Gestalt, die mit der Umgebung verschwamm.
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