MyLady Weihnachtsband 2009 Band 18
zu sehen.
In der Hoffnung, ihn noch zu erwischen, bevor er aus dem Haus war, lief Nell aufgebracht in den Flur. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie er mit entschlossener Miene ins Wohnzimmer trat.
Sie schlug sich die Hand vor den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken. Er sah in jeder Hinsicht so aus, als wollte er darauf bestehen, dass sein Vater Rechenschaft über sein Leben ablegte.
Vielleicht tat er das sogar.
Sie kehrte in die Küche zurück, spülte fertig ab und bereitete dann die Hühnerknochen für die Brühe vor, die sie am nächsten Tag essen würden. Weiter als bis dahin wagte sie nicht zu planen. Seufzend wischte sie sich mit dem Handrücken über die Stirn. Was Peregrine tun würde, wenn er dahinterkam, dass sie nicht die Absicht hatte, seine ungeheuerlichen Pläne zu unterstützen, daran mochte sie gar nicht denken.
Doch wenigstens schien es, als würde Carleton ihren Sohn allmählich für sich gewinnen. Den Nachmittag verbrachten sie zusammen im Wohnzimmer, und als Nell sich schließlich zu ihnen gesellte, sah sie in Carletons Augen ein neues Licht schimmern. Harry wirkte immer noch ein wenig gedämpft, doch er zeigte sich nicht mehr offen feindselig. Als es dunkel wurde und sie Harry ins Bett schickte, registrierte sie dankbar, dass er ihr einmal ohne Murren gehorchte.
„Er ist ein guter Junge“, sagte Carleton, den Blick noch auf die Tür gerichtet, durch die Harry gerade hinausgegangen war.
„Er kann sehr ungezogen sein“, erwiderte Nell, die plötzlich von der bösen Vorahnung gepackt wurde, seine plötzliche Fügsamkeit könnte bedeuten, dass er irgendeinen Unfug ausbrütete.
„Alle Jungen können ungezogen sein.“ Carleton lächelte. „Ich würde nicht wollen, dass es meinem Sohn an Unternehmungsgeist fehlt.“
„Den hat er gewiss“, sagte sie ein wenig streng, „und zwar mehr als genug.“
Er lachte und zog sie in seine Arme. Einige Minuten lang vergaßen sie alles andere und genossen das Zusammensein. Nell hatte das Gefühl, als hätte sie den ganzen Tag nur auf diesen Augenblick gewartet. Und so, wie Carleton jeder ihrer Bewegungen mit den Augen gefolgt war, vermutete sie, dass auch er die Minuten gezählt hatte, bis sie allein waren.
Doch schließlich löste sie sich aus seiner Umarmung.
„Ich muss hochgehen und Harry zudecken und hören, wie er sein Gebet spricht.“
Carleton küsste sie noch einmal sehnsüchtig und sagte dann mit einem Zwinkern in den Augen: „Bleib nicht zu lange weg. Ich brauche dich …“, er lehnte sich auf dem Sofa zurück und schob geschickt mit dem Ellbogen eine der Decken, die auf einem Beistelltisch gestapelt waren, zur Seite, „… denn du musst mich auch zudecken.“ Er schwieg, als die Decken in einem unordentlichen Haufen auf dem Boden gelandet waren.
Nell schwebte die Treppe hinauf in Harrys kleines Schlafzimmer unter dem Dach. Doch ihre Hochstimmung fiel in sich zusammen, als sie ihren Sohn sah. Er saß aufrecht im Bett, das Gesicht so verkrampft wie die Hände, mit denen er die bis zum Kinn hochgezogene Tagesdecke knetete.
„Was passiert jetzt, Mum?“
Sie strich ihm eine ungebärdige Locke aus der Stirn.
„Ich weiß nicht, Harry.“ Sie seufzte. „Was meinst du denn genau?“
„Der Viscount kommt doch morgen wieder, oder? Mit dem Gift?“
„Harry!“, keuchte sie. „Woher weißt du das denn?“
Eine Träne rollte ihm aus einem Augenwinkel. Wütend wischte er sie weg. „Wir haben euer Gespräch mit angehört. Wir waren draußen im Garten. Wir haben alles gehört. Was willst du denn jetzt machen?“
Nell wurde übel. Es war schlimm genug, dass Peregrine versucht hatte, sie zur Komplizin eines so widerwärtigen Verbrechens zu machen, aber der Gedanke, dass Harry in seinem Alter das alles mit angehört hatte und sich damit quälte, war ungeheuerlich!
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, flüsterte sie, wütend, dass ihr Sohn sich seit Tagen damit herumquälte. „Mir fällt schon etwas ein!“
Harrys Miene entkrampfte sich. „Wusste ich es doch, Mum.“ Er grinste, warf ihr die Arme um den Nacken und umarmte sie stürmisch.
Als er sich hinlegte, hätte sie am liebsten geweint über das unschuldige Vertrauen, das er in sie setzte. Schuldbewusst tastete sie sich die Treppe hinunter, denn zum ersten Mal in seinem jungen Leben war sie nicht ehrlich zu ihrem Sohn gewesen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie machen sollten, und ihr Inneres war ein einziges Durcheinander.
Sie musste ernsthaft mit
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