Nach dem Applaus: Ein Fall für Berlin und Wien (German Edition)
imponierte ihm: knapp, professionell. Es gab nichts zu reden, präzises Handeln war jetzt gefordert. Wahrscheinlich war das wie bei einem Sturmangriff. Aus dem Schützengraben raus. Und nach vorne. Gegen den Feind. Seltsamer Gedanke für einen, der sich vor Jahrzehnten ins eingemauerte Westberlin abgesetzt hatte, um nicht zum »Bund« gehen zu müssen.
Die Stunde des Wolfs. Die Peitschenlampen über der Martin-Luther-Straße verströmten ihr schmutziges, diffuses Licht. Kein Mensch war um diese Zeit unterwegs. Bernhardt schien es, als führe er mit seinem Auto durch ein Totenreich. Einige Ampeln waren auf gelbes Dauerblinken geschaltet, andere wechselten in sinnloser Präzision die Farben. Bernhardt liebte, nein: Er achtete die Stadt um diese Zeit. Ein Gigant, der bald aus dem Schlaf erwachen, tief durchatmen und sich bereit machen würde für einen neuen Tag, für einen neuen Kampf.
Im Büro in der Keithstraße herrschte eine Ruhe, die es nur zu dieser Stunde gab. Es war, als dehnte sich die Zeit, als liefen die Uhren langsamer, als stünde die Polizeimaschinerie für einen magischen Moment still. Doch Bernhardt warf sie mit Entschiedenheit an. Nein, hieß es in der Leitstelle am Platz der Luftbrücke, die Kollegen hätten das Handy noch nicht geortet. Aber bald müsste es so weit sein. Er alarmierte Krebitz und Cornelia Karsunke. Gab eine Fahndung an alle Polizeidienststellen raus, eine Personenbeschreibung an alle Funkwagen. Weitere Informationen und Details: später.
Inzwischen war Cellarius eingetroffen. Sie besprachen sich. Was bedeutete diese Entführung? Wer hatte ein Interesse, Sebastian Groß aus dem Verkehr zu ziehen? Was könnte der Schauspieler ihnen verschwiegen haben? Hing die Entführung mit Hirschmanns Tod zusammen? War er Hirschmanns Mörder, falls der überhaupt ermordet worden war? Hatte Groß seine Entführung vielleicht selbst inszeniert? Wenn ja, warum? Um sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen? Aber wenn ihn jemand entführt hatte: Wollte der etwas aus ihm herauspressen? Oder wollte er ihn verschwinden lassen?
Sie tigerten durch den Raum, es tat sich nichts. Krebitz, der wie ein Phantom aufgetaucht war, machte sich am Kaffeeautomaten zu schaffen. Cornelia rief an, ihre Klapperkiste springe nicht an. Bernhardt sagte ihr, sie solle in ihre Wohnung zurückgehen und warten, er werde sie gleich informieren, wie’s weiterginge.
Endlich die Nachricht, das Handy sei geortet: östlich des Berliner Rings, ein paar hundert Meter neben der Bundesstraße 1 nach Müncheberg. Die Kollegen aus Brandenburg waren schon informiert. Bernhardt nahm Kontakt mit dem Einsatzleiter auf – leider war’s nicht Maik, der alte Vopo, der am letzten Fall mitgearbeitet hatte und den er gerne wieder einmal getroffen hätte. Eine Hundertschaft sei angefordert für die Suche auf dem Areal, wo das Handy lokalisiert worden war.
Bernhardt fuhr mit Cellarius in dessen Audi los. Krebitz sollte Cornelia mit einem Wagen aus dem Fuhrpark abholen und nachkommen. Die Stadt hatte sich belebt. Dunkle Gestalten eilten mit hochgezogenen Schultern und gesenkten Köpfen auf die U-Bahn-Stationen zu, an den Bushaltestellen standen kleine Gruppen. Auf den Wagen der Stadtreinigung, die an den großen Kreuzungen postiert waren, blinkte gelbes Licht. Alles wirkte, als geschähe es in Zeitlupe, als seien die Menschen vereist und könnten sich nur mühsam bewegen.
Am Alexanderplatz bogen sie rechts in die Karl-Marx-Allee ein. Am Strausberger Platz öffnete sich ihnen eine lange Sichtachse, die geradewegs nach Osten führte. Links und rechts säumten die wuchtigen Kästen aus den frühen fünfziger Jahren die Straße. Cellarius lachte plötzlich auf.
»Stalinallee ist doch genau der richtige Name, passt wie die Faust aufs Auge. In einem dieser Arbeiterpaläste sitzt bestimmt noch Väterchen Stalin und bleckt sein gelbes Gebiss.«
»Ja, komisches Gefühl hier. Als führe man geradewegs nach Wladiwostok.«
»Nur dass dort die Häuser nicht restauriert sind und nicht unter Denkmalschutz stehen.«
Sie schwiegen. Langsam franste die Stadt aus. Baumärkte, kleine Häuser, erste Felder.
Ein paar Kilometer hinter dem Berliner Ring rotierten die blauen Leuchten der Polizeiautos. Mehrere Mannschaftswagen waren auf ein Feld gefahren. Junge Polizistinnen und Polizisten mit langen Stöcken stiegen aus den Wagen und stellten sich geordnet auf. Noch immer war es dunkel, und die ganze Szenerie hatte etwas Irreales.
Der Einsatzleiter aus Brandenburg
Weitere Kostenlose Bücher