Nach dem Applaus: Ein Fall für Berlin und Wien (German Edition)
sehr gern haben? Damals im Schwimmbad, kannst du dich erinnern? Als Greti auf deinem Arm eingeschlafen ist?«
»Ja, das war schön.«
Sie war aus dem Dämmer des Zimmers zu ihm getreten, sie wirkte unendlich müde und erschöpft. Bernhardt stand auf, zögerte einen Moment und nahm sie dann in den Arm.
»Vielleicht können wir doch…?«
»Nein, nein, ich meine es ernst, bitte versteh das. Ich bin halt ein bisschen traurig, aber das wird nachlassen. Ich habe in der vergangenen Nacht überhaupt nicht geschlafen, und da ist mir eine Geschichte eingefallen, die wir mal in der Schule gelesen haben und die ich nie vergessen habe. Da geht ein junger Bergmann in den Schacht zur Arbeit und verabschiedet sich vorher von seiner Verlobten, die er in wenigen Tagen heiraten will. Doch er kehrt nicht zurück, er wird verschüttet. Mehr als fünfzig Jahre später wird er gefunden. Und da er in Schwefelwasser gelegen hat, ist er völlig unverändert, verstehst du, ein junger Mann, der aussieht, als würde er nur ein bisschen schlafen. Niemand weiß, wer er ist, nach einem halben Jahrhundert. Bis sie seine ehemalige Verlobte finden, ein altes, verhutzeltes Weiblein, die Einzige, die sich noch an ihn erinnern kann. Und sie bringen den Leichnam zu ihr und bahren ihn in ihrer Kammer auf.«
Bernhardt nahm Cornelia in den Arm und presste ihr Gesicht an seins.
»Und weißt du, was mich bei dieser Geschichte völlig fertigmacht? Da wird dann aufgezählt, was in diesen fünfzig Jahren passiert ist, als der Bergmann im Schacht begraben lag. Ich weiß nicht mehr alles: das große Erdbeben 1755 in Lissabon, Maria Theresia regiert und stirbt, ihr Sohn regiert und stirbt, Napoleon ergreift die Macht, siegt und verliert. Verstehst du… die Erde dreht sich und dreht sich, immer weiter. Und niemand weiß mehr von dieser Liebe, nur die alte Frau, und die wird ja dann auch bald sterben. Und das finde ich so traurig.«
Sie weinte leise. Bernhardt streichelte ihr Gesicht, stammelte vor sich hin und spürte, wie ihm selbst die Tränen kamen. »Aber es gibt uns ja noch. Ich bin nicht im Schacht verschüttet.«
Sie schob ihn leicht von sich und schaute ihn an. »Das ist doch auch schlimm. Wir sehen uns hier täglich, wie soll das gehen? Und die Tour: ›Wir bleiben doch Freunde‹, die mag ich nicht.«
»Aber wir bleiben doch Freunde, irgendwie. Und wenn du willst…«
»Das ist typisch für dich: irgendwie, irgendwie… Und dann noch: wenn du willst… Mannomann.« Aber sie war nicht böse. Sie lächelte ihn jetzt an. »Du hast ja recht. Wir brechen keine Brücken hinter uns ab. Die Erde dreht sich, aber wir drehen uns mit, und wenn sie sich oft genug gedreht hat… ach, jetzt fahr erst mal zu deiner Wiener Domina.«
Cellarius stand in der Tür und machte sich mit einem leichten Räuspern bemerkbar. Es war Zeit, zum Flughafen zu fahren. Thomas Bernhardt und Cornelia Karsunke umarmten und küssten sich, ihr Mund schmeckte salzig.
Der Schneefall war dichter geworden. Die Scheibenwischer arbeiteten in höchstem Tempo. Cellarius blickte konzentriert ins weiße Gewirbel und schwieg lange, aber dann hielt er es doch nicht mehr aus.
»Was ist los mit euch?«
»Na ja, schwierig.«
Cellarius zog die Luft scharf und hörbar ein.
»Deine Wortkargheit kann einen wirklich nerven. Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst. Aber Cornelia tut mir leid.«
»Ach, und ich tue dir nicht leid?«
»Nein!«
»Und du bist nicht wortkarg?«
»Pass mal auf«, für seine Verhältnisse wurde Cellarius jetzt richtig hitzig, »jeder merkt, dass sie dich unheimlich mag, kaum sieht sie dich, strahlt sie, und du Idiot, muss ich wirklich mal sagen, spielst den Coolen, so nach dem Motto, heute brauche ich Nähe, morgen aber nicht, übermorgen vielleicht wieder, aber das weiß ich noch nicht, könnte sein, dass ich mich da doch nach Ruhe sehne. Dieses Scheißspiel der Verunsicherung, das beherrschst du wirklich gut, und ich frage mich, ob du dich dabei wohl fühlst, wahrscheinlich ja, sonst würdest du dich ja nicht so benehmen, und außerdem –«
»Du hast recht.«
»Ach, soll das jetzt Ironie sein oder was?«
»Nein, wirklich nicht, ich bin einfach nicht verlässlich genug für sie und die Kinder, das würde nicht gutgehen.«
»Und das hast du ihr gesagt?«
»Nein, ich war… ich wollte sie nicht verlieren.«
»Ja, und jetzt hast du sie verloren, genial gemacht. Hast du dir schön selbst ein Bein gestellt. Oder auch nicht, wahrscheinlich wolltest du’s genau
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