Nachruf auf eine Rose
trafen sie Lucy und ihre Mutter, die gerade herunterkamen. Lucy starrte Sally verblüfft an, und ihre Mutter schüttelte bei diesem unkontrollierten Ausbruch einer erwachsenen Frau, die noch nicht einmal blutsverwandt war, missbilligend den Kopf. Das war merkwürdig! Alle Männer schienen Sally beschützen zu wollen, doch die Frauen sahen das Ganze offenbar in einem völlig anderen Licht. Fenwick fragte sich, was sie sahen.
«Lucy.» Die blonde Schönheit blickte ihn mit weit offenen, verweinten Augen an. Sie trug ein hochgeschlossenes Nachthemd aus Frottierplüsch, das ihr mindestens zwei Nummern zu groß war. Er schenkte ihr sein väterlichstes Lächeln. «Mein Name ist Andrew Fenwick. Ich bin Polizist, und ich bin hier, weil dein Cousin Graham tot ist. Verstehst du, was ich sage?»
«Natürlich. Mir geht’s gut. Ich meine, ich bin in Ordnung, nicht wie sie.» Sie deutete mit dem Kopf in Richtung Treppe.
Ryan legte seinen Gameboy beiseite und ergriff ihre Hand.
«Bist du okay, Luce?»
«Ja. Und du?»
«Mm, geht so.»
Gehemmt standen die beiden jungen Leute da, zu alt, um sich einfach spontan zu umarmen, und nicht alt genug, um genügend Selbstvertrauen zu haben, es dennoch zu tun.
«Bitte komm mit, Lucy. Möchtest du deine Mutter oder deinen Vater dabei haben?» Lucy schüttelte den Kopf, und Fenwick und Constable Shah führten sie durch die große Halle in die Bibliothek. Es war kalt hier, doch niemand schien es zu stören. Lucy schlüpfte aus den übergroßen Hausschlappen, die sie trug, zog die Beine an und umfasste ihre Knie mit beiden Armen.
«Du und Ryan, ihr habt die Leiche gefunden», stellte Fenwick fest.
«M-hm. Wir wollten einen Spaziergang machen oder so, und da war es, ich meine er, unter einem Baum.» Sie schluckte schwer, schien sich jedoch gut im Griff zu haben.
«Ich möchte, dass du uns alles erzählst, an was du dich noch erinnerst. Alles.»
«Also, es war sehr dunkel und neblig. Wir haben uns verlaufen, doch dann hörte ich den Fluss rauschen und wusste, dass ich von dort aus wieder zurückfinden würde. Dann tauchte der Baum vor uns auf. Zuerst war ich erleichtert, zumindest wussten wir jetzt wieder, wo wir waren. Inzwischen war der Nebel noch dichter geworden, und wir waren ganz nass. Jetzt kommt der schreckliche Teil», sagte sie leise, und Fenwick musste unwillkürlich an seine siebenjährige Tochter denken.
Instinktiv stand er auf, setzte sich neben sie und nahm ihre steifen, kalten Finger in seine Hand und drückte sie begütigend. Er bemerkte, dass Constable Shah skeptisch eine Augenbraue hochgezogen hatte, und schüttelte unmerklich den Kopf. Es war vielleicht nicht politisch korrekt, doch er wusste, dass er das Richtige tat.
«Erzähl weiter. Wir haben es nicht eilig. Lass dir ruhig Zeit.»
«Es ist nur …» Sie drückte seine Hand, und er sah, wie die Polizistin sich merklich entspannte. «Ach, ich weiß nicht. Es ist so schrecklich.»
«Eine Leiche zu finden, ist schrecklich, doch wir brauchen deine Hilfe, indem du uns genau erzählst, was du gesehen hast.»
«Okay.» Sie atmete tief durch und blickte weg. «Irgendwie sind wir um den Baum herumgegangen, und dann sah ich dort diese Gestalt, die sich im Nebel bewegte. Aber etwas daran war merkwürdig. Statt näher zu kommen, blieb sie auf derselben Stelle und wiegte sich hin und her, als würde sie tanzen. Es war so unheimlich.
Ryan dachte, es wäre ein Spanner, und wurde wütend. Er ging näher hin und sagte: ‹Was glaubst du, was du zu sehen kriegst?› Aber natürlich bekam er keine Antwort, also trat ich zu ihm und erkannte Graham. An seinem Haar, heute hat doch niemand mehr so eine Frisur. Und ich dachte noch, das sieht ihm gar nicht ähnlich, dass er hier hinterm Baum lauert. Doch bis auf diesen Stringtanga hatte er nichts an, und sein … sein …», sie stockte und fuhr dann flüsternd fort, «na ja, sein Ding stand oben raus. Und dann sah ich seine Augen.» Sie schluckte.
«Erzähl weiter.»
«Sie waren weit aufgerissen und starr. Und im Licht der Taschenlampe schienen sie ganz rot zu sein. Da wusste ich, dass er tot war. Er war ganz sicher tot. Ich meine, Graham war ein komischer Typ, aber er war doch nicht pervers. Ich schrie. Ryan auch, und er packte meine Hand, und dann sind wir losgerannt. Der Nebel um uns herum war so dicht, und wir schienen ewig zu rennen. Dann hat Alexander uns gefunden, und er war ganz ruhig und hat uns nach Hause zurückgebracht. Ich bin ins Bett gegangen und, na ja, das war
Weitere Kostenlose Bücher