Nacht der Geister
alles, das mit ihm zusammenhing, schätzte und begrüßte.
»Es ist nicht so, dass ich ein Mensch sein wollte«, erklärte er, während wir durch den Keller gingen. »Es ist nur so, dass ich nicht weiß, was falsch daran sein sollte, ein Mensch zu sein.
Es läuft auf eine einzige Frage hinaus wem dienen die Engel?
Dem Schöpfer, den Parzen, den anderen höheren Mächten.
Das steht außer Frage. Aber dienen wir auch den Menschen?
Ich glaube ja.«
»Und sie sind anderer Meinung?«
»Nachdrücklich.« Er blieb am Fuß einer halbverrotteten Holztreppe stehen und griff nach meinem Ellenbogen, um mir hinaufzuhelfen. »Das ist ein Teil des Problems. Der andere, der durchaus mit dem Ersten zusammenhängt, ist, dass ich jünger bin als sie.«
»Ihr seid also nicht alle zusammen geschaffen worden?«
»Bei den Reinblütigen gab es drei Generationen. Als die menschliche Rasse sich ausbreitete, sah der Schöpfer, dass mehr Engel gebraucht wurden. Ich gehöre zur dritten und letzten Generation. Seither wurden wir durch Geister verstärkt. Die aufgestiegenen Engel.«
»Wie alt bist du also?«
»Etwa tausend Jahre.«
Ich prustete. »Geradezu ein Kleinkind!«
Er lächelte kurz in meine Richtung. »Den Älteren zufolge bin ich genau das. Ein Kind ein eigenwilliges, ungeschliffenes, unerfahrenes Kind, dem diese Aufgabe ganz entschieden nicht hätte übertragen werden sollen.«
»Ich habe den Eindruck, du bist ihr vollkommen gewachsen.«
Wieder ein Lächeln, breiter diesmal.
»Danke.«
∗ ∗ ∗
Wir trafen Amanda Sullivan in ihrer Zelle in einem unruhigen Schlaf an, sie zuckte und stöhnte im Traum . . . oder vielleicht in den Visionen der Nixe. Ich hoffte sehr, dass es Alpträume waren, fürchterliche Alpträume von der Sorte, die einem noch Monate lang nachgeht und das ganze Leben lang in Erinnerung bleibt.
Trsiel war erst vor ein paar Minuten hier gewesen und wusste somit genau, wo er nach den Visionen zu suchen hatte; er klinkte mich in den entsprechenden Teil ihres schlafenden Geistes ein, ohne auch nur einen Blick auf die verrottete Einöde andernorts werfen zu müssen.
Aber was ich fand, waren abgerissene, zusammenhanglose Bilder, die mir nichts mitteilten, und nach etwa zehn Minuten holte Trsiel mich wieder heraus.
»Das war’s dann wohl«, sagte ich. »Sie ist fort.«
»Es sieht so aus. Ihre ehemaligen Partnerinnen sind nicht ständig mit ihr verbunden.«
»Aber wir können doch nicht einfach hier rumsitzen, periodisch ihre Gedanken lesen und drauf warten, dass diese Frau uns eine Verbindung mit der neuesten Partnerin liefert!«
»Hab Geduld. Irgendwann wird etwas kommen.«
Wir verbrachten den Rest der Nacht in Sullivans Zelle, und Trsiel warf etwa alle fünf Minuten einen Blick in ihre Gedanken in der Hoffnung, etwas Brauchbares zu finden. Gegen vier Uhr schlug er mir vor, ich sollte doch versuchen, den kleinen Jungen, George, zu finden, nachsehen, was er so trieb. Wirklich rücksichtsvoll von ihm . . . wobei mir der Verdacht kam, dass er es einfach satt hatte, mir beim AufundabRennen zuzusehen.
Der Morgen brach an, und die anderen Frauen wurden zum Frühstück geweckt. Sullivan blieb im Bett. Die Gefängnisinsassinnen verließen ihre Zellen, aber an Sullivans Tür blieb niemand auch nur stehen.
Nachdem die anderen Frauen verschwunden waren, stand Sullivan verschlafen und schlechtgelaunt auf und zog sich an.
Ein paar Minuten später erschien eine Wärterin mit einem Frühstückstablett.
»Es ist kalt«, wimmerte Sullivan, bevor sie das Essen auch nur probiert hatte. »Es ist immer kalt.«
»Ach, tatsächlich?«, antwortete die Wärterin, die Hände in die breiten Hüften gestemmt. »Wir können dich natürlich auch runtergehen und wieder mit den anderen essen lassen. Wäre dir das lieber?«
Als Sullivan sich abwandte, fiel ihr Haar zur Seite und gab einen tiefen Kratzer am Hals frei, der noch nicht vollständig verschorft war.
»Dachte ich mir«, sagte die Wärterin. »Also sei lieber dankbar für den Zimmerservice.«
Sie ging.
»Fette Kuh«, murmelte Sullivan.
Sie grub den Löffel in die Hafergrütze und hielt dann plötzlich inne, den Löffel in der Luft. Sie ließ ihn langsam wieder sinken; ihr Kopf drehte sich von einer Seite zur anderen mit der Wachsamkeit eines Menschen, der gelernt hat, vorsichtig zu sein.
»Wer ist da?«, flüsterte sie.
Als niemand antwortete, stand sie auf, stellte das Tablett geräuschlos ab und glitt zur Zellentür. Ein langer Blick in beide Richtungen.
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