Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
»Sie ist tot! Susanne ist tot, und keine Reue wird sie uns zurückbringen.«
Spätestens jetzt hätte mein Herz zerspringen und auch mich töten müssen. Hatte ich das wirklich getan? Hatte ich mit meiner Mutter gestritten und sie die Treppe hinuntergestoßen? Ich konnte mich nicht erinnern! Es war alles schwarz, und je mehr ich versuchte, die Bilder zu rufen, desto schlimmer nahm der Schmerz zu.
»Ich weiß«, sagte der Kripomann. »Mit diesem Schicksalsschlag müssen Sie und Ihre Familie irgendwie allein klarkommen, und sei es noch so schwer. Sie müssen weiter miteinander leben. Lorena ist noch nicht strafmündig, das heißt: Was auch immer die weiteren Ermittlungen ergeben, es wird keine Folgen für sie haben.«
Keine Folgen? In mir schrie es auf. Meine Mutter war tot, und er sagte, das hätte keine Folgen! Es hatte ihr Leben zerstört.
Ich hatte ihr Leben zerstört!
Die Stimmen entfernten sich. Mein Vater kam nicht herein, und ich verstand das. Lautlos drangen meine Tränen durch die noch immer geschlossenen Wimpern und tropften auf das Krankenhauskissen, während Großmutters Hand wieder meinen Arm streichelte.
Lorena hielt den Füller noch immer in der Hand, doch sie war mitten in der Bewegung erstarrt. Das Entsetzen, das sich in ihr ausbreitete, ließ nicht einmal mehr Tränen zu.
Was tue ich hier? Warum rühre ich an der Vergangenheit, über die das Vergessen so gnädig eine dunkle Decke gebreitet hatte? Jahrelang hat für mich mein Leben mit meinem Umzug nach London begonnen. Mit der Highschool, mit Tante Ruby und mit Jason. Meine Eltern und das Leben davor waren zu formlosen Schatten verblasst, die mein Herz nicht mehr schmerzten, und nun wühle ich in der schwarzen Finsternis herum und wirbele all das wieder auf, was meinem Gedächtnis entglitten war.
Warum muss ich mich ausgerechnet an diese Nacht erinnern? Habe ich wirklich meine eigene Mutter getötet? Sie in einem Anfall von Zorn die Treppe hinuntergestoßen, wo sie sich das Genick brach?
Nein, das kann nicht sein. Es muss der Nachtmahr gewesen sein, nicht ich.
Tut das etwas zur Sache? Sind sie nicht ein und dieselbe Person?
Nein!
Doch, das Wesen gehört zu mir. Das muss ich endlich akzeptieren. Dabei hat es Zeiten gegeben, in denen ich mich nur selten gewandelt habe.
Lorena schürzte die Lippen.
Als ich mit der Highschool begonnen habe, sind die Wandlungen weniger geworden. Nein, schon vorher in Hamburg. Höchstens in den Neumondnächten hat es mich überkommen, aber auch dann ist der Drang nicht so stark gewesen. Ich kann mich an Nächte erinnern, in denen ich mich gewandelt, die ich aber dennoch ruhig in meinem Bett verbracht habe. Es ist mir möglich gewesen, ein ganz normales Leben zu führen. Fast normal. Nicht zu vergleichen mit dem Versteckspiel, das ich heute betreiben muss.
Wann hat es begonnen, wieder schlimmer zu werden?
Lorena runzelte die Stirn und dachte nach.
Irgendwann in meinem letzten Jahr an der Universität. Seltsam. Ich habe noch nie so genau darüber nachgedacht, wann und warum ich mich wandelte. Gut, es geschah immer in den Nächten des Neumonds. So hat es auch in meinem dreizehnten Lebensjahr begonnen. Dann, mit der Zeit, habe ich mich immer häufiger nachts gewandelt. Es kam meist zu Mitternacht über mich, doch ich erinnere mich, dass ich es allein durch Willenskraft auch früher am Abend schaffte, sobald es dunkel geworden ist. Und auch die Rückverwandlung musste nicht um ein Uhr sein, setzte jedoch spätestens ein, wenn sich der neue Tag ankündigte und die Sonne sich dem Horizont näherte.
Wenn ich mich noch von Blut ernähren würde, würde ich sagen, ich bin so etwas wie ein Vampir. Ob in der Finsternis der Nacht vielleicht auch Vampire existierten. Schließlich durfte es sie genauso wenig geben wie Nachtmahre.
Was für ein Blödsinn! Vermutlich ist mir nur jeder Gedanke recht, der mich von meinen schmerzlichen Erinnerungen ablenkt. Natürlich kann ich nicht vergessen, dass meine Mutter tot ist, so wie der Rest meiner Familie. Weshalb hätte ich sonst nach England kommen und bei meiner Tante leben sollen? Doch das war wie der Beginn eines neuen Lebens gewesen. Noch einmal Start auf null. Eine zweite Chance, um alles besser zu machen, um die Wunden zu verdrängen und sie im Verborgenen heilen zu lassen.
Nur dass sie nicht geheilt sind. Verdrängt ja, vielleicht auch für eine Zeit lang vergessen, aber nicht geheilt! Dafür schmerzen sie weiterhin zu sehr. Irgendwo unter der Oberfläche ist noch
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