Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
Überzeugung, es gäbe den geborenen Verbrecher, bis hin zum Wunschdenken vom aussterbenden Kriminellen war schon damals alles dabei. Und erst im Nachhinein wussten wir, wie weit entfernt von beidem die Wahrheit lag. Zwischen seinen zwei ersten Morden, bei denen er noch nicht einmal volljährig war, und dem nächsten erschien sogar ein ahnungsloser Artikel in der örtlichen Zeitung, in dem der junge Mann porträtiert wurde. Warten Sie, dazu habe ich sicher noch etwas in meinen Aufzeichnungen.« Renz stand auf und öffnete die Seitentür eines großen Bücherschrankes. Zielsicher griff er nach einer Mappe, schaute kurz hinein, drehte sich um und hielt einen vergilbten Zeitungsausschnitt hoch. Er las Judith aus dem alten Artikel vor: »Das ist Erwin Hagedorn – ein junger Mann von heute, ein Jungsozialist, der mit seinem Fleiß, seinen schöpferischen Ambitionen anderen hilft, sich jenes Denken und Handeln zu eigen zu machen, wie es ihm täglich Bedürfnis ist.«
»Was für ein Blödsinn!«, seufzte Judith leise. Vor dem Hintergrund der Morde eines sadistischen Triebtäters hörte sich das mehr als nur makaber an.
Renz legte die Mappe zurück in den Schrank und kam wieder zum Tisch. »Sechzehn Monate später hat Hagedorn den nächsten Jungen umgebracht. Das hat neben dem nachvollziehbaren Entsetzen in der Bevölkerung und bei allen an der Ermittlung Beteiligten eben auch für unglaubliche Verwirrung und Wut bei den damaligen Hütern der Wahrheit gesorgt. Ich bin bis heute davon überzeugt, dass nur deswegen die Todesstrafe für Hagedorn ausgesprochen und er – zum Entsetzen aller Gutachter – mit nur zwanzig Jahren tatsächlich hingerichtet wurde.«
»Inzwischen müsste man doch aber etwas dazugelernt haben«, meinte Judith Brunner leicht ironisch, das anstrengende Telefonat vom Vortag noch gut im Ohr.
»Sicher, das hat man gewiss auch. Doch das Selbstverständnis mancher Leute sieht Irrtümer einfach nicht vor. Das macht es schwer, Fehleinschätzungen zu korrigieren. Und bis kriminologische und psychologische Erkenntnisse in die Praxis des Alltags Eingang finden – das kann schon mal dauern. Und setzt zunächst auch voraus, dass die Menschen überhaupt lernen wollen. Es gibt einfach zu viele Apologeten.«
Judith nickte bedauernd. »Hat es in unserem Fall erst gestern angefangen oder haben wir da was übersehen?« Diese drängende Frage hatte sie schon die ganze Nacht nicht schlafen lassen.
»Ich habe viel über den Hund nachgedacht«, sagte Renz. »Wenn wir mal vom Schlimmsten ausgehen – und das würde ich ohne Weiteres in Betracht ziehen –, wollte uns jemand mitteilen, dass wir ihm endlich Beachtung schenken sollen.«
»Sie denken also auch, dass Ilona Eichner womöglich nicht das erste Opfer war«, stellte Judith Brunner befriedigt fest. Dass Dr. Renz ihre Überlegungen teilte, gab ihr noch mehr Sicherheit, diese Hypothese zum Ausgangspunkt ihrer Ermittlungen machen zu können. Nachher erwarteten ihre Mitarbeiter konkrete Anweisungen von ihr.
»Fangen wir am besten an wie immer«, schlug Dr. Renz vor. »Kommen Sie!«, forderte er Judith auf und ging voran zu einem der Stahltische, der, durch eine Glasscheibe von seinem Büro getrennt, im Nachbarraum zu sehen war. Er blieb stehen und sah seine Besucherin ruhig an. »Kurz nach Mitternacht war ich fertig. Ich kann Ihnen also einiges erzählen. Vorab vielleicht so viel: Es gibt – außer dem Offensichtlichen – keine Überraschungen. Das Mädchen war altersgerecht entwickelt, in gutem körperlichen Allgemeinzustand, kerngesund und noch nicht sexuell aktiv. Das Hymen ist erst durch die Penetration mit dem harten Schlauchstück gerissen.«
Dr. Renz wartete und als Judith Brunner leicht nickte, schlug er das weiße Tuch über dem Leichnam, zunächst nur vom Oberkörper, zurück. Hier in dem grellen Licht, auf dem kalten Stahltisch, wirkte Ilona Eichner noch jünger als vierzehn, zerbrechlich und zart. Die Haut in ihrem Gesicht zeigte an der linken Seite eine Mischung aus Dunkelblau und Rot. Die Lippen sahen ähnlich aus. Um das linke Auge herum war alles geschwollen.
Deutlich waren an beiden Seiten des Kehlkopfes blutunterlaufene Druckflecke zu sehen, an der linken Halsseite zudem einige kleinere Schrammen. Auch an den Unterarmen waren Hämatome zu erkennen und ein paar rundliche Wunden, die sicher geblutet hatten.
»Aus den Nasenöffnungen ist eine schaumige Flüssigkeit ausgetreten und über die rechte Wange bis zum Ohr gelaufen. Eine braune
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