Nachtsafari (German Edition)
ihrem Handy herum. Aber immer wieder sah sie abgelenkt hinüber zur Bar. Marcus stand mit Olaf und ein paar anderen am Tresen und hielt schon das zweite Glas Wodka in der Hand. Vergeblich versuchte sie, seinen Blick einzufangen. Irgendetwas war mit ihm nicht in Ordnung. Mit halbem Ohr lauschte sie dem neuesten Klatsch, den Nicole stets parat hatte und mit saftigem Spott erzählte, bekam aber nur ein paar Brocken mit. Der aggressive Hardrock, der durchs Haus hämmerte, machte eine normale Unterhaltung fast unmöglich. Sie nippte an ihrem Weinglas und beobachtete Marcus mit steigender Sorge.
Der tobte sich – das braune Haar wirr, die Hände zu Fäusten geballt – allein zwischen seinen Freunden auf der Tanzfläche aus. Das Hemd hing ihm offen über die Hose, die nackte Brust war schweißüberströmt, seine Augen waren merkwürdig starr und gerötet. Wie in Trance tanzte er. Sie stellte ihr Glas hart auf dem Tisch ab. Tanzen konnte man das nicht mehr nennen. Es war nicht ausgelassen oder fröhlich, sondern wirkte eher wie die Choreografie eines Kampfsports.
Frustriert biss sie sich auf die Lippen. Offenbar war es mal wieder so weit. Insgeheim nannte sie es seine Anfälle. Vier, fünf Mal waren sie, seit sie sich kannten, durchgebrochen und hatten ihn derart verwandelt, dass sie ihn kaum als den Mann wiedererkannte, in den sie sich verliebt hatte. Ein paar Wochen nachdem sie sich kennengelernt hatten, hatte er sie nach München eingeladen, und da war es zum ersten Mal passiert. Auch auf einer Party bei den Haslingers.
Kurz nach ihrer Ankunft hatte er einen Anruf bekommen und war auf den Balkon ausgewichen, weil Olaf die Musik aufgedreht hatte. Der Anruf dauerte länger, und als er wieder ins Zimmer kam, wollte er nicht sagen, mit wem er gesprochen hatte, sondern packte sie plötzlich und zerrte sie auf die Tanzfläche. Zu ihrer eigenen Bestürzung wich sie im ersten Augenblick instinktiv vor ihm zurück, aber er nahm keine Rücksicht, sondern wirbelte sie herum, dass ihr schlecht wurde.
»Was ist los mit dir?«, schrie sie ihn bestürzt an und versuchte, sich aus seinem harten Griff zu befreien, aber ohne Erfolg.
Hinterher stellte sie ihn zur Rede.
Seine Antwort kam nach einer atemlosen Pause. »Hart arbeiten, wild feiern, es krachen lassen, das ist es, worum es geht. Sonst zählt doch nichts.«
Aber in seinen Augen glühten dabei ein so verzweifeltes Verlangen und ein Schmerz, derart abgrundtief, dass Silke zutiefst erschrak. In diesem Augenblick war sie sich sicher, geradewegs in die Hölle zu blicken.
»Kann ich dir helfen? Bitte sag’s mir«, bettelte sie ihn an.
Doch er wehrte jede ihrer Fragen mit steinerner Miene mit Banalitäten ab. Am nächsten Tag aber war er wieder da, der Mann mit dem warmen Lächeln, den Augen, aus denen seine Liebe zu ihr sprach. Der Mann, den sie mehr liebte als sonst einen Menschen auf der Welt. Er nahm sie in die Arme und hielt sie fest, als wollte er sie nie wieder gehen lassen.
Ihre Angst verflüchtigte sich unter seinen Zärtlichkeiten. Sie schob das Ganze auf zu viel Alkohol und verdrängte den Vorfall. Doch dann passierte es nach ein paar Monaten noch einmal. Und dann wieder, und dieses Mal war der Abstand kürzer geworden. Und als Weihnachten näher rückte, brach es erneut aus ihm heraus.
Bis heute war sie noch nicht auf den Grund seiner Hölle gelangt. Zeitweise schien es ihm besser zu gehen. Er war ausgeglichener, doch die sprühende Energie, die ihn sonst umgab, schien abgestumpft. Den Grund fand sie eines Tages im Papierkorb des Badezimmers: eine leere Packung eines Medikaments, dessen Namen sie nicht kannte. Die Packungsbeilage war nicht dabei, und so holte sie sich aus dem Internet die nötigen Informationen. Dabei erfuhr sie, dass das Mittel gegen Depressionen und vor allen Dingen bei Angststörungen eingesetzt wurde.
Bei diesem Wort war spontan das Gesicht des Vaters von Mar cus vor ihrem inneren Auge aufgetaucht, sie hatte die frostige Kälte gespürt, die ihn umgab, und sie erinnerte sich an das, was ihr Marcus nach einer Flasche Wein eines Abends gebeichtet hatte.
Dass ihm allein ein Blick aus den stechenden Augen genügte, um ihm Schweißausbrüche zu verursachen, und dass er sich dafür hasste, noch in seinem Alter auf diese Weise auf seinen Vater zu reagieren. Einen zentnerschweren Mühlstein hatte er ihn genannt, der ihm die Luft zum Leben abdrückte.
Und da glühte für eine Sekunde das Höllenfeuer in seinen Augen. Als sie beunruhigt Genaueres
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