Nachtsafari (German Edition)
wissen wollte, lachte er in einem plötzlichen Gemütsumschwung, küsste sie und meinte, dass er nur gerade mal sauer auf seinen Vater gewesen sei. Danach vermied er es, in dieser Weise über seinen Vater zu sprechen. Eigentlich sprach er so gut wie nie über ihn und auch nicht über den Rest seiner Familie. Sie wusste nur, dass seine Mutter in Australien lebte. Es gab keine Fotos von seiner Familie, keine Erinnerungsstücke. Keine Anekdoten. Nichts.
Irgendwann hatte sie für sich eine Erklärung gefunden, die zu passen schien. Die schmerzhafte Trennung seiner Eltern. Marcus hatte ihr erzählt, dass seine Mutter zu Beginn seines Studiums überraschend die Scheidung eingereicht habe. Danach habe eine verbissene Schlammschlacht stattgefunden. Voller Hass hatten seine Eltern um jede Kleinigkeit gestritten. Zwei Tage nach der Scheidung war seine Mutter mit einem anderen nach Australien ausgewandert und hatte jeden Kontakt abgebrochen. Auch zu ihm.
Als er ihr das erzählte, sah er so verloren aus, dass es ihr das Herz zerriss. Seitdem hatte sie immer wieder versucht, ihn dazu zu bewegen, entweder eine eigene Firma zu gründen oder sich eine Stellung bei einer anderen Firma in einer anderen Stadt oder sogar in einem anderen Land zu suchen, um dem Druck seines Vaters zu entkommen. Es würde nicht schwierig für ihn sein, als Geowissenschaftler war er begehrt. Aber sie stieß auf Granit mit ihren Vorschlägen. Alles blieb beim Alten. Und die Hölle flackerte in seinen Augen.
Tief in Gedanken leerte sie ihr Glas. Marcus kämpfte weiterhin seinen einsamen Kampf auf der Tanzfläche. Ein Blick auf die Uhr und das ohrenbetäubende Krachen vorzeitig abgefeuerter Silvesterknaller zeigten ihr, dass die Jahreswende kurz bevorstand. Irgendwie musste sie Marcus dazu bewegen, die Party so schnell wie möglich zu verlassen. Im allgemeinen Getümmel würde es vermutlich nicht auffallen.
Sie ging hinüber zum Buffet, das ziemlich leer geplündert aus sah, als wäre eine Horde Affen über das Essen hergefallen. Flüchtig dachte sie darüber nach, wie merkwürdig es war, dass Menschen, die regelmäßig und meist zu viel aßen, auf Partys offenbar vollkommen ausgehungert zu sein schienen. Sie nahm einen Teller und suchte aus den Resten etwas Appetitliches für Marcus zusammen, holte aus der bereitstehenden Kaffeemaschine zwei Espressi und stellte das Tablett auf dem Tisch ab.
»Marcus muss endlich was in den Magen bekommen, sonst haut ihn der Alkohol um. Ich bin sicher, er hat mittags allenfalls ein belegtes Brötchen gegessen«, erklärte sie Nicole, die mittlerweile ein paar Dutzend Champagnergläser zum Anstoßen füllte. Sie bahnte sich ihren Weg durch die Tanzenden zu Marcus. Er sah sie aus glasigen Augen an, schlang aber überraschend die Arme fest um sie, legte die Wange an ihre und wiegte sie mit geschlossenen Augen.
»Lass uns etwas essen!« Sie musste schreien, um die Musik zu übertönen, und wollte ihn zum Tisch bringen, doch Marcus zog sie auf den Balkon.
»Ich brauche frische Luft«, murmelte er. »Nur für einen Augen blick.« Mit dem Fuß schob er die Glastür zu, ehe Silke, die ein schulterfreies Kleid trug, Gelegenheit hatte, ihren Daunenmantel zu holen.
Ohrenbetäubendes Krachen, feurige Farbkaskaden und Funken sprühende Raketen begrüßten sie, und ein eisiger Windstoß wirbelte ihr die Haare hoch. Ein Kälteschauer lief ihr über die Haut. Fröstelnd drängte sie sich näher an Marcus. Dabei spürte sie, dass jeder Muskel seines Körpers zuckte, als stünde er unter Hochspannung.
»Was ist?«, fragte sie leise und streichelte seine Hand. Sie war schweißnass und eiskalt, und sie musste an die Schachtel mit dem Mittel gegen Angststörungen denken. »Friss es nicht in dich hinein«, bat sie. »Sag’s mir. Vielleicht kann ich dir helfen, außerdem ist zu zweit alles leichter. Das Jahr ist fast zu Ende. Jetzt ist eine gute Gelegenheit dazu.«
Ohne Vorwarnung ließ er seine Faust gegen den Rahmen der Balkontür krachen, dass sie zusammenzuckte.
»Verdammte Scheiße!«, brüllte er und hieb abermals auf den Holzrahmen ein, dass die Scheiben schepperten.
Den Ausdruck hatte sie bisher noch nicht oft von ihm gehört. Was setzte ihm nur so zu, dass er derart seine Beherrschung verlor? Sein Hemd war schweißdurchtränkt.
Schweigend reichte sie ihm ein Papiertaschentuch. Wortlos nahm er es und rieb sich Gesicht und Hals trocken. Nach einem langen Blick hinaus über die Stadt, wo alle feierten, wandte er sich ab und sah
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