Nachtsafari (German Edition)
zerstört gewesen. Jetzt war er hellwach.
»Komm, ich bring dich hinein und verbinde das.«
»Was war das?«, fragte sie noch etwas benommen. »Ich dachte, mich hätte eine Kanonenkugel getroffen.«
»Ein Raubadler.«
»Ein Raubadler«, wiederholte sie und taumelte ins Wohnzimmer. »Wie konntest du den denn so schnell identifizieren? Mir war zuerst nicht mal klar, dass es ein Vogel war. Erst als er plötzlich über mir stand …«
Marcus antwortete, ohne weiter zu überlegen. »Ach, die sind hier relativ häufig.«
»Hast du gelesen«, bemerkte sie trocken und wischte sich das hervorquellende Blut von der Wange.
Marcus zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Vermutlich. Irgendwo. Vielleicht in dem Sawubona-Magazin, das ich im Flieger nach Durban gelesen habe.« Er versuchte ein Lächeln, aber ihre Miene zeigte ihm, dass Sturm drohte.
»Da stand nichts über Adler drin, schon gar nicht über Raubadler«, sagte sie langsam, und ihr Gesicht rötete sich zusehends.
Ihren Blick spürte er wie Nadelstiche und überlegte fieberhaft, wie er die Situation deeskalieren konnte. Vielleicht durch Ablenkung. »Dann muss ich es eben irgendwo anders gelesen haben. Es ist doch im Augenblick nicht so wichtig, wer dir das Auge aushacken wollte, oder? Ich hol jetzt die Pflaster aus dem Erste-Hilfe-Kasten. Der ist unten in meinem Koffer.« Damit wandte er sich ab und strebte der Treppe zu.
Aber sie streckte die Hand aus und hielt ihn auf. »Du scheinst dich in der Gegend und in der Tierwelt auszukennen, und außerdem habe ich seit gestern Abend den Verdacht, dass du die Eingeborenensprache verstehst. Daraus leite ich ab, dass du schon mal hier warst, und zwar für längere Zeit. Und wenn das so ist, warum verheimlichst du mir das? Sag’s mir!«
Ihre Fragen kamen im Maschinengewehrtempo, und Marcus tat so, als hätte er sie nicht verstanden. »Wie bitte?«, erwiderte er nur.
Für einen Augenblick schwieg sie, schien einen inneren Disput mit sich selbst auszutragen, dann holte sie tief Luft. »Was ist eigentlich los mit dir, Liebling?« Ihre Stimme war so liebevoll, dass ihm ganz warm wurde. Sie hob die Hand und wollte ihm übers Gesicht streicheln, aber er bog den Kopf zurück.
»Gar nichts ist mit mir los, warum?«
Silkes Miene verschloss sich. »Dann gib mir bitte eine einleuchtende Erklärung, warum du bei der Passkontrolle am Johannesburger Flughafen fast umgekippt bist vor … vor was? Angst? Wovor? Und hinterher hast du dich aufgeführt, als wärst du high. Marcus?«
Er zuckte mit den Schultern und schwieg, einfach weil er nicht wusste, wie er ihr antworten sollte.
»Deine Stimmungsumschwünge sind mir unheimlich. Es ist, als hättest du eine Wesensänderung durchgemacht.«
»Ach«, sagte er nach einer Pause, »das bildest du dir nur ein. Ich bin, wie ich immer war.«
»Ich bilde mir gar nichts ein«, fauchte sie ihn an.
Es war offensichtlich, dass sie sich nur mit Mühe wieder unter Kontrolle brachte.
»Sag mir einfach, dass ich mich irre«, sagte sie leise, »dass du noch nie hier warst. Damit wäre ich zufrieden.«
Marcus sah sie gepeinigt an, sah die Angst, die sich als Maske über ihr Gesicht gelegt hatte, die plötzlichen Tränen, die ihre Augen röteten. Aber ihm rasten so viele Gedanken im Kopf umher, dass es ihm nicht möglich war, sie in Worte zu kleiden. Er schwieg weiter.
Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Bitte, tu uns das nicht an«, flehte sie. »Bitte nicht. Irgendetwas quält dich, irgend etwas schiebt sich zwischen uns und drückt uns auseinander.«
Aber alles, was er zustande brachte, war ein gekünstelt klingendes Lachen. »Ach wo. Nichts drückt uns auseinander. Du hast bloß zu viel afrikanische Sonne abbekommen, da sieht man manchmal rosa Schweinchen fliegen.«
Ihr Gesicht wurde dunkelrot. »Erzähl mir doch keinen Schiet von irgendwelchen rosa Schweinchen!«, schrie sie. »Was geht hier vor?« Ihr Blick wurde zusehends misstrauischer. »Du warst schon mal hier!«
»Ich war noch nie in Afrika.«
»Und warum besäufst du dich plötzlich, das tust du doch für gewöhnlich nicht?« Ihre Stimme kletterte die Tonleiter hoch. »Also, was ist los? Ich will das auf der Stelle wissen!« Sie schob ihr Gesicht ganz dicht an seines heran.
Er sah in ihre kornblumenblauen Augen, auf die vollen Lippen und konnte einfach nicht widerstehen. Er küsste sie.
Silke allerdings reagierte nicht so, wie er es sich erhofft hatte. Offenbar war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen
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