Nachtsplitter
Lkw-Plane dabei. Sein schwarzer Blick war direkt auf mich gerichtet. Ich wollte wegsehen, doch seine
Augen ließen mich nicht los. Sie hielten mich gefangen und katapultierten mich zurück an einen anderen Ort, in eine andere
Zeit.
Ich renne. Er ist direkt hinter mir. Sein Atem in meinem Nacken. Das Moos unter unseren Schuhen. Unsere Schritte lautlos und
still. Als würden wir fliegen. Ich habe keine Angst.
Mein Herz begann zu hämmern. Am liebsten wäre ich weggelaufen, aber Markus' Arm lag immer noch auf meinen Schultern.
Hätte ich Angst haben sollen?
Jakob zögerte einen Moment, dann kam er langsam auf uns zu.
»Na, alles klar?«, fragte Markus in lockerem Tonfall.
Jakob nickte. »Und bei dir?«
»Könnte nicht besser sein. Sag mal, bist du schon von den Bullen befragt worden?«
»Nein.« Jakob fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Er sah mich nicht mehr an, doch ich spürte seinen Blick immer noch auf
meiner Haut. »Aber sie haben meine Personalien aufgenommen. Und ich musste nach Hause laufen. Eigentlich wollte ich im Auto
pennen, aber das ging nicht, weil die Bullen das ganze Gelände abgesperrt hatten. Und wenn ich mich ans Steuer gesetzt hätte,
hätten sie mich vermutlich gleich hopsgenommen.«
Das Adrenalin schoss durch meinen Körper. Jakob war mit dem Auto auf dem Festival gewesen! In meinen Ohren begann es zu rauschen
und von der restlichen Unterhaltung bekam ich kaum etwas mit.
»Du Armer.« Pia schüttelte mitleidig den Kopf. »Ist ein ordentliches Stück, was?«
»Das kannst du laut sagen.« Für den Bruchteil einer Sekunde sah Jakob zu mir. Unsere Blicke trafen sich und prompt stockte
mir der Atem. Wusste er, was ich dachte? Ich wartete darauf, dass er noch etwas sagen würde. Eine Bemerkung über meine Trinkfestigkeit.
Oder über meine Vorliebe für nächtliche Bäder im Baggersee.
Doch Jakob schwieg. Er nickte Markus zu, dann ging er weiter. Ich atmete auf.
»Man sieht sich!«, rief Pia ihm nach, aber Jakob drehte sich nicht noch einmal um.
3
Ich war froh, als der Vormittag vorbei war. Die letzte Stunde hatte mir den Rest gegeben. Badminton bei Frau Fritsche, die
trotz ihres fortgeschrittenen Alters immer eine knallenge Gymnastikhose und ein viel zu knappes Sport-Shirt mit großzügigem
Ausschnitt trug, aus dem ihr üppiger Busen beinahe herausfiel.Die Jungs kriegten jedes Mal Stielaugen, wenn sie den Aufschlag vormachte, was Frau Fritsche großzügig mit guten Noten quittierte.
Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, warum ich nicht den Aerobic-Kurs genommen hatte, so wie Pia. Und nicht zum ersten Mal
wusste ich die Antwort eigentlich ganz genau: weil ich Aerobic zum Kotzen fand.
Nachdem ich geduscht und mich umgezogen hatte, verließ ich die Sporthalle und ging langsam über den Parkplatz zu meinem Fahrrad.
Die leichte Brise war angenehm und ich freute mich darauf, zu Hause endlich die verschwitzte Jeans auszuziehen und wieder
in meinen Lieblingsrock zu schlüpfen.
Da bemerkte ich das Auto. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Ein alter, dunkelblauer Passat. Er stand zwischen einem roten
Golf und einem weißen Mercedes auf dem Lehrerparkplatz wie ein immer wiederkehrender Albtraum. Und diesmal gab es keinen Zweifel:
Der Wagen war nicht meiner Fantasie entsprungen. Er war wirklich da. Meine Beine begannen zu zittern.
»Hey, Jenny!«
Jakob stieg aus dem Wagen. Mein Mund war so trocken, dass ich keinen Ton herausbrachte. Ich räusperte mich und flüsterte:
»Ist das dein Auto?«
Jakob nickte. Sein Blick war unergründlich. Ich wollte mich nicht wieder von ihm fortziehen lassen, aber es passierte trotzdem.
Ich konnte nichts dagegen tun.
Dunkelheit, beschlagene Scheiben. Der muffige Geruch des Schlafsacks. Übelkeit, Angst, Panik . . .
Ich warf einen Blick in den Passat. Das verstaubte Armaturenbrett, die Sitze aus abgewetztem Leder und der Müll im Fußraum.
Es war der Wagen, in dem ich Samstagnacht aufgewacht war, kein Zweifel. Der Beifahrersitz befand sich wieder in der Senkrechten.
Auf dem Rücksitz meinte ich, einen zusammengeknüllten, olivgrünen Schlafsack zu erkennen.
Lustvolles Stöhnen. Gespreizte Schenkel. Blutige Kratzer auf weißer Haut . . .
Jakob kam auf mich zu. Ich wollte weglaufen, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Ich blieb wie festgewachsen auf dem Parkplatz
stehen. Was, wenn er mich gleich ins Auto ziehen und losfahren würde? Zurück in den Wald? Zurück in meinen Albtraum?
Ich schwankte. Jakob wollte nach
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