Nachtsplitter
passiert ist. Aber ich kann mich an nichts erinnern. Ich hab geschlafen. Und
als ich aufgewacht bin, lag ich im Krankenhaus.«
Ich konnte gut nachvollziehen, dass ihr das schwarze Loch in ihrem Kopf zu schaffen machte. In dieser Hinsicht hatten wir
etwas gemeinsam.
»Vielleicht kommt die Erinnerung ja zurück. Irgendwann, wenn du gar nicht mehr damit rechnest.«
»Glaubst du, derjenige, der die Flasche von der Brücke geworfen hat, wollte unser Auto treffen?«, fragte Lena.
Ich schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht.«
»Warum hat er das nur gemacht?« Lena dachte viel über den Unfall nach. Genau wie mich ließ sie der geheimnisvolle Flaschenwerfer
nicht los, wenn auch aus anderen Gründen. Zum Glück hatte ihr bis jetzt niemand das Phantombild gezeigt. Ich war mir ziemlich
sicher, dass sie mich sofort erkennen würde. Lena sah oft unheimlich klar.
»Vielleicht war es ein Betrunkener, der überhaupt nicht darüber nachgedacht hat, was er tut.« Das war zumindest die Meinung
meiner Mutter.
»Meinst du, die Polizei findet den, der das getan hat?« Es war nicht das erste Mal, dass Lena mir diese Frage stellte.
»Möchtest du das denn?«, fragte ich zurück.
Lena überlegte. »Ich weiß nicht. Vielleicht. Ich würde ihn gern fragen, warum er das getan hat. Und ob es ihm leidtut.«
Ich wollte das Handy wieder an mich nehmen, aber Lena hielt es fest. »Wer ist das?«
Ich warf einen Blick auf das Display. Lena hatte aus Versehen den nächsten Film gestartet.
»Das ist Pia, meine Freundin. Und das daneben sind zwei Mädchen aus meiner Klasse, Lara und Marie.«
»Ist Pia deine beste Freundin?« Lena starrte auf das Display.
»Ich schätze schon.«
Oberflächlich betrachtet gingen wir inzwischen wieder fast normal miteinander um. Doch manchmal war die Kluft, die zwischen
uns entstanden war, noch so deutlich zu spüren, als hätten wir uns gerade erst gestritten.
»Ist sie nett?«
Ich überlegte. »Meistens.«
Weder Pia noch ich hatten zurückgenommen, was wir uns am Telefon an den Kopf geworfen hatten. Vielleicht weil wir es beide
ehrlich gemeint hatten.
Das Video, das Lena sich gerade anschaute, war Anfang der Woche entstanden, als ich ein bisschen auf dem Schulhof herumgefilmt
hatte. Lara und Marie zerrissen sich gerade das Maul über Jakob. Pia hatte dafür gesorgt, dass sein dunkles Geheimnis kein
Geheimnis mehr war. Montagmorgen war ich so durcheinander gewesen, dass ich ihr von dem Zeitungsartikel im Internet erzählt
hatte. Inzwischen wusste es wahrscheinlich die ganze Schule. Maries etwas zu grelle Stimme ertönte so klar aus dem Handy,
als würde sie neben Lena und mir im Krankenzimmer stehen.
»Mich überrascht das gar nicht. Mir kam er von Anfang an komisch vor. So wortkarg und abweisend. Irgendwie düster. Kein Wunder
. . .«
Lügnerin, dachte ich. In Wirklichkeit warst du doch die ganze Zeit scharf auf ihn.
Ich nahm Lena das Handy aus der Hand und aktivierte die Tastensperre. Ich wollte nicht mehr an Jakob denken. Am liebsten hätte
ich ihn aus meinem Gedächtnis gelöscht. So wie einen Film aus meinem Handyspeicher. Leider ging das nicht so einfach.
»Hast du eigentlich einen Freund?«, fragte Lena neugierig.
Ich zögerte. »Na ja, nicht so richtig. Ich bin zwar irgendwie noch mit jemandem zusammen, aber wir haben uns gestritten.«
Markus hatte am Montag nach der Schule auf mich gewartet. Er wollte mit mir reden, aber ich hatte ihn abblitzen lassen. Ich
konnte ihm noch nicht verzeihen. Doch ich schaffte es auch nicht, endgültig Schluss zu machen. Seitdem schickte er mir jeden
Tag eine SMS. Sie bestand immer nur aus einem einzigen Satz.
Jenny, ich liebe dich.
Ich hätte nicht gedacht, dass er so hartnäckig sein würde.
»Sieht dein Freund, mit dem du dich gestritten hast, auch so gut aus wie der Junge auf dem Video?«
»Nicht ganz.«
»Ist er nett?«
Ich zögerte. »Ja. Eigentlich ist er ziemlich nett. Aber manchmal baut er auch ganz schönen Mist.«
»Ihr müsst euch wieder vertragen.« Lena sah mich ernst an. »Es ist ganz leicht. Wer etwas Dummes gemacht hat, muss sich entschuldigen.«
»Das hat er schon getan«, sagte ich.
»Na also! Dann ist doch alles klar.«
Ich musste lächeln. Mit zehn ist das Leben noch so einfach. Oder machte ich es vielleicht unnötig kompliziert?
»Hast du mir neue Kassetten mitgebracht?«, fragte Lena. »Die alten kann ich schon auswendig.«
»Hab ich.« Ich zog einen Stapel Hörspielkassetten aus meiner
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