Nana
Ihre größte Zerstreuung war, wenn sie nach Batignolles gehen konnte, um ihren kleinen Ludwig bei ihrer Tante zu besuchen. Oft dachte sie zwei Wochen lang gar nicht an ihn; dann kam eine wahre Gier über sie, ihn zu sehen. Sie war imstande, zu Fuß hinauszulaufen, bescheiden und zärtlich zu sein, wie die beste Mutter. Da gab es allerlei Geschenke, Schnupftabak für die Tante, Orangen und Zwieback für den Kleinen. Ein anderes Mal kam sie auf der Rückkehr aus dem Gehölz in ihrem Landauer und in Toiletten, deren Pracht die ganze stille Gasse in Aufruhr versetzte. Madame Lerat tat sehr stolz, seitdem ihre Nichte wieder in der Höhe war. Sie erschien nur selten in dem Hause in der Villier-Allee; dort sei nicht ihr Platz, sagte sie bescheiden. Dagegen triumphierte sie, wenn ihre Nichte zu ihr kam, bekleidet mit Toiletten im Werte von vier- bis fünftausend Franken. Dann war sie den ganzen folgenden Tag damit beschäftigt, allen Leuten ihrer Gasse die erhaltenen Geschenke zu zeigen, und warf mit Ziffern umher, welche die Nachbarleute zur höchsten Verwunderung hinrissen. Zumeist widmete Nana die Sonntage ihrer Familie; wenn an einem solchen Tag Muffat sie zu irgendeiner Partie einlud, lehnte sie mit dem Lächeln einer kleinen Bürgersfrau ab; unmöglich, sie speise bei ihrer Tante, sie müsse ihren Kleinen besuchen. Indes war der kleine Ludwig noch immer kränklich; er ging jetzt ins dritte Jahr und war für sein Alter nicht klein. Allein eine große Geschwulst auf seinem Nacken und seine stark belegten Ohren ließen darauf schließen, daß ein Knochenfraß bei ihm im Anzuge war.
Wenn sie ihn so bleich und blutarm sah, das Fleisch schlaff und voll gelber Flecke, wurde sie immer nachdenklich. Sie konnte über diese Erscheinung nicht genug staunen. Was mochte dem armen Kleinen fehlen, daß er so elendiglich zugrunde ging, während sie, seine Mutter, kerngesund war?
An den Tagen, wo ihr Kind sie nicht beschäftigte, verfiel Nana in die geräuschvolle Einförmigkeit ihres Lebens: Promenaden im Gehölz, Theatervorstellungen, Mittag- und Abendessen im Goldenen Hause oder im Englischen Kaffee, dann der Besuch aller öffentlichen Orte, aller Schaustellungen, wo die Menge sich drängt, Paraden, Wettrennen. Dennoch wollte das Gefühl der Leere nicht weichen, das ihr wahre Krämpfe verursachte. Trotz ihrer ewigen Launen langweilte sie sich zu Tode, sobald sie allein war. Die Einsamkeit stimmte sie traurig. Sie, die sonst so heiterer Natur war, rief dann ein um das andere Mal unter fortwährendem Gähnen:
Wie widerwärtig sind mir doch die Männer.
Eines Nachmittags sah Nana, von einem Konzert nach Hause fahrend, auf der Montmartre-Straße ein Weib dahinschlendern in abgetretenen Schuhen, schmierigen Röcken und einem durch den Regen ganz aus der Form gebrachten Hute. Plötzlich erkannte Nana das Frauenzimmer. Sie ließ den Wagen anhalten und rief:
Satin, Satin ...
Die Fußgänger wandten den Kopf um; die ganze Straße war Zeuge dieses Schauspiels. Satin kam näher und beschmutzte sich an den Rädern des Wagens noch mehr.
Steig ein, sagte Nana, ohne der gaffenden Menge zu achten.
Sie packte das schmutzige Frauenzimmer und führte es in ihrem hellblau gepolsterten Landauer fort, hart an ihrer Seite, in ihrer perlgrauen Seidenrobe mit den Chantillyspitzen. Die ganze Straße lachte über die würdige Haltung des Kutschers, der diesen seltsamen Zug führte. Von da all hatte Nana eine Leidenschaft, die sie beschäftigte. Satin wurde ihr Laster. Zerfetzt, schmutzig und kurzgeschoren wie sie war, hielt Satin ihren Einzug in das Haus, wo sie, nachdem sie gewaschen und geputzt worden, die ersten drei Tage nichts zu tun hatte, als ihre Erlebnisse in der Strafanstalt Saint-Lazare zu erzählen. Sie schimpfte auf die Nonnen der Anstalt und dann auf die schmutzigen Polizeiagenten, die sie auf die Liste gesetzt hatten. Nana war entrüstet. Sie tröstete Satin und schwur ihr, sie den Klauen der Polizei zu entreißen, und wenn sie bis zum Minister gehen müsse. Einstweilen sei die Sache nicht dringend; bei ihr werde man sie gewiß nicht suchen. Die beiden Frauenzimmer verbrachten wieder halbe Tage miteinander unter allerlei zärtlichen Reden, Küssen und Liebkosungen. Wieder begann das Spiel aus der Laval-Straße, das seinerzeit durch die Polizeiagenten so jäh unterbrochen worden war. Eines schönen Abends wurde die Sache ernst. Nana, der einst das Treiben bei Laura sehr eklig war, begriff erst jetzt. Sie war verstört, wütend, um so
Weitere Kostenlose Bücher