Narrentreiben: Ein Fall für Hubertus Hummel (Hubertus Hummel-Reihe) (German Edition)
sich nicht einmal darüber im Klaren, ob er überhaupt für die Ehe taugte. Im Übrigen hatten die Journalisten von allen Berufsgruppen die höchste Scheidungsrate. Aber eines wusste er ganz sicher: Mit Kerstin wollte er unbedingt zusammenbleiben.
Am Klingelschild stand nach wie vor »Zehnle/Riesle«. Immerhin hatte Kerstin es noch nicht ausgewechselt.
Er betrachtete die in rundlich geschwungener Schreibschrift eingravierten Namen. Sollte er Kerstin tatsächlich mal heiraten, dann müsste sie seinen Namen annehmen. Denn Zehnle-Riesle oder Riesle-Zehnle, das ging gar nicht. Außerdem waren Doppelnamen eh bescheuert.
Dann nahm er allen Mut zusammen, führte die leicht zitternde Hand an den kleinen weißen Knopf, der in das Klingelschild eingelassen war, und drückte.
Nichts.
Vielleicht hatte er zu kurz gedrückt? Oder sie hatte die Klingel ausgeschaltet?
Wie blöd, dass die Wohnung ganz oben unter dem Dach war.
Und einen Ersatzschlüssel gab es nicht. Den hatte Kerstin ihm ja vermacht und dann wieder abgenommen.
Nach dem sechsten Klingeln war Klaus völlig verzweifelt.
Was sollte er nur tun? Warten, bis sie nach Hause kam?
Womöglich würde sie sich heute an ihm rächen, auf die Fasnet gehen und irgendeinen Typen in einer Schwenninger Kneipe aufgabeln.
Er lehnte an der Wand, sackte in sich zusammen und landete auf dem kalten Fliesenboden vor der Haustür. Dort zog er den Geldbeutel aus seiner hinteren Hosentasche, klappte ihn auf und nahm Kerstins Foto in die Hand. Er strich über ihre Nase, ihren Mund und ihre Haare. Dann drehte er es um. »Ich liebe dich über alles! Deine Kerstin«, stand dort in Kerstins schülerhafter Schrift. Klaus liebte ihr Gekrakel.
Noch immer stand die Sonne am Horizont und blinzelte ihn über den Dachfirst einer benachbarten Villa an, doch ein eisiger Wind wehte um die Häuser. Von Weitem hörte Klaus die Geräuschkulisse des fasnachtlichen Treibens in der Schwenninger Innenstadt. Die Trommeln und Trompeten einer Musikkapelle mischten sich mit dem hellen Klang des Hanselgschell. Er meinte, ein paar grölende Kehlen herauszuhören. Auch aus einem Fenster des Hauses drang Fasnachtsmusik. Er versuchte aufzustehen, doch sein erster Versuch scheiterte, weil seine von der Eiseskälte tauben Finger zunächst den Dienst verweigerten.
»Ganz schee bsoffä«, raunzte ein alter Mann, der unverkleidet vorbeispazierte.
Klaus überlegte kurz. Wenn er auf Kerstin wartete, könnte er sich auch gleich in den Neckar stürzen, denn hier würde er unweigerlich erfrieren. Er klingelte bei Bantles – den einzigen Nachbarn, die er halbwegs kannte. Doch auch hier öffnete niemand.
Klaus lief auf die gegenüberliegende Straßenseite, um von dort aus einen Blick auf die Wohnung zu erhaschen. Er sah, dass die Balkontür einen Spalt weit offen stand. Bei dieser Kälte würden ihnen noch die Heizungsrohre einfrieren, wenn Kerstin nicht bald nach Hause käme.
Oder war sie doch zu Hause?
Klaus kniff die Augen zusammen und starrte durch die Scheibe des Wohnzimmerfensters. Da war doch etwas! Etwas Rotes! Es sah aus wie der Umhang eines Schwenninger Hansels. Und die etwas kleinere Gestalt daneben, das musste Kerstin sein, die gerade den Maskierten anlächelte.
Wie konnte sie nur? Dann kam wohl auch die Musik aus genau dieser Wohnung. Wahrscheinlich hatten sie deshalb die Klingel nicht gehört. Der Herr Hansel hatte wohl schon seine eigene CD dabei. Na warte …
Für Klaus gab es nur eines: Er musste in die Wohnung. Egal wie!
Einen Moment lang musterte er die schmucklose Hausfassade. Er beschloss, bis zum Dachsims am Abflussrohr hochzuklettern, sich dann auf die Regenrinne zu stellen, an ihren Balkon heranzuschleichen und dann den Hansel am besten gleich von der Balustrade zu werfen.
Klaus hauchte zwei-, dreimal in die Hände, bevor er das Regenrohr umfasste. Das Zinkblech fühlte sich an wie blankes Eis. Mit den Füßen schob er sich Zentimeter für Zentimeter in Richtung Dachsims. Als er den ersten Stock erreichte, kam auf dem Gehweg eine mit Tröten und Konfetti bewaffnete Gruppe von Clowns vorbei. Offenbar hatten auch sie am Umzug teilgenommen.
»Die Leute machen schon komische Sachen, um eine schöne Sicht auf den Umzug zu haben«, scherzte einer der Clowns. Die anderen lachten.
Doch Klaus kümmerte sich nicht weiter darum. Er hielt den Blick fest auf das Rohr gerichtet und arbeitete sich bis zum zweiten Stock vor. Die Musik wurde lauter. Tatsächlich, sie schien aus Kerstins Wohnung zu kommen.
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