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Nebenwirkungen (German Edition)

Nebenwirkungen (German Edition)

Titel: Nebenwirkungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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beruhigend auf die beiden einzureden. Er brauchte lange, bis ihre Angst etwas nachließ. Während Robert sprach, schaute sich Paul unauffällig in der Hütte um. Plötzlich stieß er Robert in die Seite und deutete mit dem Kopf nach hinten. Dort hing ein Tuch, das einen Teil des Raums abtrennte, und hinter diesem Tuch hervor schauten zwei spindeldürre menschliche Füße. Füße eines bis fast auf die Knochen abgemagerten Erwachsenen.
    Robert erschrak und fragte mit belegter Stimme: »Ist er tot?«
    Der Junge schüttelte den Kopf und sagte kaum hörbar: »Mutter, krank.« Das Mädchen verschwand hinter dem Tuch, von wo nun ein leises Stöhnen zu vernehmen war. Robert versuchte herauszufinden, was der Mutter des Jungen fehlte, doch der zuckte nur mit den Achseln und murmelte etwas wie ›böse Seuche‹. Er schaute Paul vielsagend an und übersetzte: »Aids.« Nachdem er einen Blick hinter das Tuch geworfen hatte, war er sicher. »Seine Mutter hat Aids im fortgeschrittenen Stadium, wie es scheint.« Der Junge hatte inzwischen eines der Fenster geöffnet, und das warme Sonnenlicht milderte die Trostlosigkeit der Szene etwas. Als Paul den Jungen nun im Licht betrachtete, fuhr er unwillkürlich zusammen. Sein Gesicht glich dem gefleckten Fell eines Gepards, nur mit vertauschten Farben. Die schwarze Haut war über und über mit hellen gelblichen, grauen und weißen Flecken bedeckt. Seine hagere Gestalt verlieh ihm zusätzlich etwas Katzenhaftes, doch schien er nicht krank und schwach zu sein, eher drahtig und zäh. Nach und nach erfuhren sie, dass die beiden Jugendlichen und ihre kranke Mutter mit Ausnahme zweier alter Leute in der Hütte nebenan die einzigen Überlebenden im Dorf waren. Sie lebten sehr zurückgezogen hier. Andere Leute mieden den Kontakt zu ihnen, wohl nicht zuletzt wegen ihres unheimlichen Aussehens. Die Kinder kümmerten sich um die Mutter und die beiden Alten, so gut sie konnten. Sie taten das offenbar mit großem Einsatz, wie Paul auch an der tadellos sauber gehaltenen und aufgeräumten Hütte feststellen konnte.
    »Warum haben sie sich denn so gefürchtet?«, fragte Paul zu Robert gewandt. Robert übersetzte die Frage, und die Antwort des Jungen bestätigte seine Vermutung. Die Kinder hatten Angst vor den fremden Leuten aus der Mine. Vor langer Zeit hätten Weiße in ihrem Dorf Kranke behandelt, die teilweise von weither gekommen waren. Auch ihm hatten die Fremden Medikamente gegeben, worauf sich seine Haut verfärbt hatte. Als dann mehr und mehr der Kranken starben, wären die Fremden plötzlich verschwunden.
    »Wo sind denn die vielen Toten?«, wollte Robert wissen.
    Der Junge deutete schweigend in die Richtung der Felsen. Man hatte die Toten wohl am Fuße der Felsen begraben. Bevor sie die bedauernswerten Leute im todgeweihten Dorf wieder verließen, versorgte Robert die eiternde Wunde, die sich die kranke Mutter an der rechten Hand zugezogen hatte, indem er sie notdürftig desinfizierte und verband. Sie überließen den jungen Leuten weiteres Verbandsmaterial. Paul war froh, seine Zwischenverpflegung noch nicht gegessen zu haben. Als er sie den Kindern gab, fiel das Mädchen mit Heißhunger über den süßen Snack her.
    Auf der Rückfahrt zur Mine saßen die beiden Männer schweigend nebeneinander. Der Besuch des todgeweihten Dorfs hatte ihnen die Sprache verschlagen.
Cambridge
     
    Mrs. Carvalho hatte ein ungutes Gefühl. Seit der Professor aus Afrika zurückgekehrt war, verhielt er sich sehr sonderbar. Liebgewordene alte Gewohnheiten schien er einfach vergessen zu haben. Als sie ihm wie gewohnt nach dem Mittagessen den Tee servieren wollte, fand sie die Bibliothek verlassen, und nicht nur das, auf seinem Schreibtisch herrschte große Unordnung. Noch niemals in all den Jahren hatte sie so etwas erlebt. Der Professor hatte sich verändert, und das missfiel ihr nicht nur, es machte ihr gehörig Angst.
    Die gute Frau wusste nicht, wie recht sie hatte. Er hatte sich tatsächlich verändert. Viele Dinge des täglichen Lebens, die ihm früher selbstverständlich und wichtig erschienen waren, hatten nun kaum noch Bedeutung. Die Gedanken an die schrecklichen Bilder, mit denen er von seinem geliebten Afrika zurückgekehrt war, beschäftigten ihn zu sehr, hatten die Prioritäten in seinem wohlgeordneten Leben verändert. Paul hatte ihm Marchands Tagebuch mitgegeben. Mit ernster Mine und einer Entschlossenheit, die seinen Kollegen überraschte, bat er Peter Thornton nochmals um seine Hilfe bei der

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