Neonträume: Roman (German Edition)
entwickeln und vermitteln Trends und Leitbegriffe, wir geben ihnen Richtwerte und verkürzen ihnen die Zeit, die sie ansonsten mit der Lösung lästiger Fragen verschwenden würden: wofür sie ihr Geld ausgeben sollen, wohin sie ausgehen und wo sie essen sollen, was sie anziehen sollen und so weiter. Wir bereichern ihren Wortschatz und ihren intellektuellen Fundus mit ständig frischen Ausdrücken und Redewendungen. Die allermeisten Vertreter der Moskauer Schickiszene, mögen sie auch fast durchweg im Umkreis der Rubljowskoje-Chaussee residieren, sind wegen mangelhafter Bildung oder progressiver Verkümmerung ihrer Hirnrinde durch Nichtverwendung außerstande, eigene Gedanken zu formulieren. Folglich obliegt es uns, den Lifestyle-Chronisten dieser Epoche der primären Akkumulation des Kapitals, für sie zu sprechen. Ihr Wortschatz stammt aus unseren Artikeln, ihre Schimpfwörter aus unseren scharfzüngigen Kolumnen, und noch der hinterletzte Witz, den sie feuchtfröhlich weitererzählen, stammt von uns. Wenn dieser gesellschaftliche Regress sich weiter fortsetzt, werden sie eines Tages gezwungen sein, permanent einen Stapel aktueller Glamour-Magazine mit sich herumzuschleppen, damit sie antworten können, wenn man sie nach ihrer Meinung fragt; oder sie benutzen gleich ihr Notebook und fischen mit dem Finger auf dem Touchscreen die für die jeweilige Diskussion erforderlichen Argumente heraus. Für diese Leute sind wir wie Götter, sie verehren uns mehr als die alten Heiden ihre hölzernen Götzen.
Genauso ist es! Wir sind die Avantgarde des Glamour, die intellektuellen Götter der Moderne!
Na gut… Was wollte ich sagen… Irgendwie habe ich mich mal wieder reingesteigert.
Ich schalte mein Notebook an und öffne die Datei mit dem Restaurant-Rating der vergangenen Woche. Mal sehen, was haben wir denn da Schönes… Zuerst die üblichen Verdächtigen, das GQ , die Cantinetta Antinori, das Turandot. Nowikow, Delos und der Restaurant-Trust haben inzwischen noch nichts Neues aufgemacht. Also lassen wir die Plätze eins bis fünf erstmal, wie sie waren. Dann ein paar Sommerlokale, das Hiatt, die Veranda und so, das ist auch in Ordnung. Was weiter? Das Puschkin schmeiße ich raus, das ist jetzt schon die zehnte Woche am Stück im Rating, das reicht. Das Fenster wird ebenfalls gecancelt, ich habe ihm eine Woche versprochen, die ist rum. Das Kanane bildet das Schlusslicht. (Die wollten mir tatsächlich keinen Rabatt geben! Nach dem Motto: Wir sind total angesagt! Wir sind total angesagt! Ja, ja. Nächstes Mal jage ich sie zum Teufel und schicke ihnen einen gepfefferten Kommentar hinterher.) So weit, so gut. Natürlich alles im Dienste und zum Wohle der Gäste! Jetzt die Kommentare…
Über Restaurants zu schreiben ist ganz einfach. (Mal davon abgesehen, dass Restaurantkritiker nichts von Kritik halten.) Wenn man den Elaboraten dieser Spezies glaubt, gibt es in ganz Moskau kein Restaurant, das nicht mindestens drei Michelin-Sterne verdiente, und hinter jedem Suppentopf steht bei uns ein Alain Ducasse. Selbst das schlichteste Tellergericht verwandelt sich unter den genialen Händen unserer russischen Chefköche in ein neues, nie gesehenes Wunderwerk der Kochkunst, und die Weinkarten sind so unerreicht und unerreichbar, dass die westeuropäischen Kollegen die Korken, die unsere göttlichen Sommeliers aus den Flaschen ziehen, wie Reliquien nach Hause tragen und in Schreinen heimlich anbeten. Über die Schöpfer der hinreißenden Interieurs russischer Restaurants erübrigt sich ohnehin jedes Wort. Das sind Wesen von solcher Genialität und bezwingender Schöpferkraft, dass sie jemanden wie Philippe Starck nicht einmal als Anstreicher beschäftigen würden. Stattdessen stellen sie lieber ein paar moldawische Ziegenhirten ein.
Die Wirklichkeit sieht allerdings ein wenig anders aus. Der Guide Michelin führt bisher nicht ein einziges russisches Restaurant, auf seiner kulinarischen Landkarte liegt Russland irgendwo in der Antarktis. Zwar steht außer Zweifel, dass es auch in Moskau den ein oder anderen talentierten oder sogar genialen Koch gibt. Das Problem ist nur, dass diese Leuchten der russischen Gastronomie durchweg Italiener, Spanier oder Japaner sind. Und unter den groben Händen der kulinarischen Elite unseres Landes verwandelt sich selbst das einfachste Tellergericht auf grauenerregende Weise in eine Substanz, die wahre Gaumenschmerzen verursachen kann. Man muss immer wieder staunen, wie es möglich ist, ganz
Weitere Kostenlose Bücher