Nesbø, Jo - Harry Hole - 02
geht uns langsam aus.«
Er war seit dem Tod von Harrys Mutter nicht m ehr in der Hütte gewesen.
»Wie geht es dir?«, fragte sein Vater.
»Gut, ich komme bald nach Hause. Wie geht es Søs?«
»Sie kommt zurecht, aber eine Köchin wird sie nie werden.«
Sie lachten beide. Harry konnte sich gut vorstellen, wie die Küche ausgesehen hatte, nachdem Søs das Sonntagsess en ge-kocht hatte.
»Ja, du solltest ihr etwas Schönes mitbringen«, sagte er.
»Ich werde schon was f inden. Und wie ist es mit dir, hast du irgendeinen Wunsch?«
Es wurde still. Harry fluchte innerlich, er wusste, dass sie jetzt beide an das Gleiche dachten, näm lich dass Harry das, was sich sein Vater wünschte, nicht aus Bangkok m itbringen konnte. So war es jedes Mal. W enn er endlich das Gefühl hatte, Vater auf andere Gedanken gebracht zu haben, fiel ein falsches Wort, das ihn an sie erinnerte, u nd er verschloss sich wieder und verschwand in seiner selbst aufe rlegten stillen Isolation. Am schlimmsten war das für Søs, denn sie und V
ater waren die
allerallerdicksten Freunde gewesen, wie Vater das imme r
genannt hatte. Jetzt war sie doppelt allein, wenn Harry fort war.
Sein Vater räusperte sich.
»Du könntest vielleicht … vielleicht so ein Thaihemd mitbringen.«
»Ja?«
»Ja, das wäre schön. Und ei
n paar o rdentliche Nike-
Joggingschuhe, die sollen da doch so billig sein. Ich habe gestern die alten herausgekram t, aber die taug en nichts m ehr.
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Wie sieht es überhaupt mit deiner Kondition aus, sollen wir m al nach Hansekleiva fahren und die testen?«
Als Harry auflegte, spürte er einen seltsamen Klumpen ganz oben in der Brust.
Harry träumte wieder von ihr. Rote Haare im W
ind und ihr
ruhiger Blick. Er wartete auf das, was dann für gewöhnlich folgte, dass ihr der Tang aus Mund und Augen zu wachsen begann, doch dieses Mal geschah es nicht.
»Hier ist Jens.«
Harry schrak auf und registrierte , dass er im Schlaf den Hörer abgenommen haben musste.
»Jens?« Er fragte sich, warum sein Herz plötzlich so schnell schlug. »Sie haben aber wirklich üble Telef ongewohnheiten,
wissen Sie, wie spät es ist?«
»Tut mir leid, Harry, aber hier he rrscht die totale Krise. Runa ist weg.«
Harry war mit einem Schlag hellwach.
»Hilde ist außer sich. R una sollte zum Essen zurück sein und jetzt ist es drei Uhr nachts. Ic h habe schon die Polizei angerufen und die haben die Verm isstenanzeige an alle Streifenwagen weitergegeben, aber ich wollte Sie trotzdem um Hilfe bitten.«
»Und was soll ich tun?«
»Was? Ich weiß nicht. Könne n Sie nicht kurz hierher kommen? Scheiße, Mann, Hilde sitzt nur da und heult!«
Harry konnte es sich vorstellen. Er hatte keine große Lust, sich auch noch den Rest anschauen zu müssen.
»Hören Sie mal, Jens, heute Ab end kann ich nicht m ehr viel tun. Geben Sie ihr eine Valium , wenn sie noch nicht zu viel getrunken hat, und rufen Sie alle Freundinnen von Runa an.«
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»Die Polizei hat das Gleiche gesagt. Hilde sagt, sie hätte keine Freundinnen.«
»Verdammt!«
»Was?«
Harry richtete sich im Bett auf. Er würde in dieser Nach t so oder so nicht m ehr schlafen könne n. »Tut mir leid! Ich bin in einer Stunde da.«
»Danke, Harry!«
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KAPITEL 42
Hilde Molnes war definitiv zu betrunken für eine Valium . Sie war, um es klar auszudrücke n, zu betrunken für alles außer Weitertrinken.
Jens schien das nicht zu be merken, er rannte wie ein gejag tes Kaninchen immer wieder in die Küche, u m Wasser und Eis zu holen.
Harry saß auf de m Sofa und hörte ihrem Lallen nur m it hal-bem Ohr zu.
»Sie glaubt, dass etwas Schreck liches geschehen ist«, sagte Jens.
»Sagen Sie ihr, dass m ehr als achtzig Prozent dieser Verm iss-tensachen damit enden, dass die Ver
missten wohlbehalten
wieder auftauchen«, sagte Harry, als müsse seine Aussage erst noch in ihre gelallte Sprache übersetzt werden.
»Das habe ich ihr auch schon gesagt. Sie glaubt aber, dass Runa etwas angetan worden ist, sie sagt, sie könne das spüren.«
»Blödsinn!«
Jens saß auf der vordersten Kante des Stuhls und knetete seine Finger. Er wirkte total gelähm t und starrte Harry flehend an:
»Runa und Hilde haben in der letz ten Zeit viel gestritten, ich denke, dass sie vielleicht …«
»… abgehauen ist, ohne etwas zu sagen, um ihre Mutter zu bestrafen? Durchaus möglich.«
Hilde Molnes hustete und es kam Bewegung ins Sofa. Sie richtete sich auf und kippte ei nen weiteren Gin hinunter. Das
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