Nette Nachbarn
als ich hereinkam, und als sie mein Gesicht
sah, fuhr sie sich mit der Hand an den Mund.
»Sharon, was ist los?«
Ich schüttelte den Kopf und blickte zu
dem Fernsprecher in der Ecke hinüber. Es schien unmöglich, in meiner Handtasche
eine Münze zu finden, und noch unmöglicher, mich an die Nummer des
Morddezernats zu erinnern.
»Sharon — «
»Gib mir ein paar Dimes.«
»Aber was — «
»Ein paar Dimes! Bitte!«
Carolyn griff in ihre Tasche und zog
die Münzen heraus. Ich nahm sie mit eiskalten Fingern und lief zum Telefon. Sie
folgte mir, kam mir näher, als mir lieb war. Ich konnte fühlen, wie ihr Körper
erstarrte, als ich dem Inspektor vom Morddezernat die Nachricht durchgab.
Als ich auflegte, wandte ich mich zu
Carolyn um. Ihre Augen glänzten, unnatürlich groß in der schwachen Beleuchtung.
»Wann ist das passiert?«
»Ich weiß nicht. Ist nicht lange her.
Er ist noch warm.«
»Wer ist es?«
»Das weiß ich auch nicht. Ein
männlicher Asiate, ungefähr in Duc Vangs Alter. Ich habe ihn nie zuvor
gesehen.«
Sie wollte zur Feuertür gehen, aber ich
packte ihren Arm. »Geh nicht da runter, Carolyn. Warte auf die Polizei.«
»Aber ich muß sehen, wer — «
»Nein, mußt du nicht. Das wirst du
nicht wollen.«
Sie blickte mich ein paar Sekunden lang
an, nickte dann und kehrte mit mir zur Rezeption zurück. Ich ließ ihren Arm los
und legte die Papiertüte — die mich langsam zu ärgern anfing — neben den Baum.
Dann lehnte ich mich gegen den Tresen, um zu warten. Meine Haarspitzen
verfingen sich in einem Zweig des Weihnachtsbaumes, aber ich machte mir nicht
die Mühe, sie davon zu lösen. Taubheit breitete sich in mir aus, eine Reaktion
auf den letzten Adrenalinstoß, der mich befähigt hatte, den Anruf zu tätigen.
»Wir sollten es Mrs. Zemanek erzählen«,
schlug Carolyn nach einer Minute vor.
»Sie ist nicht da.«
»Sie ist immer da.«
»Heute abend nicht. Nicht, als ich
vorhin bei ihr geklopft habe.«
»Wahrscheinlich hat sie den Fernseher
angeschaltet und Kopfhörer aufgehabt. Das macht sie manchmal.« Carolyn wollte
zu ihrer Tür gehen.
Wieder hielt ich sie zurück. »Nicht.
Sie macht nur Aufruhr. Es wird später noch genug Durcheinander geben. Warte auf
die Polizei.«
Kaum hatte ich ausgesprochen, da
erschienen auch schon zwei uniformierte Beamte in der Tür zur Straße. Sie
erkundigten sich, wer angerufen hätte. Ich sagte, das wäre ich gewesen, und
zeigte ihnen, wohin sie gehen mußten. Sie gingen in den Keller hinunter, kamen
zurück. Einer eilte auf die Straße. Der andere kam zu Carolyn und mir herüber.
Es gab Fragen zu beantworten, Namen und Adressen mußten angegeben werden. Ich
fühlte mich besser, jetzt, da ich etwas zu tun hatte.
Dann ließen sie uns allein, an den
Tresen gekauert, gleich neben dem Weihnachtsbaum. Carolyn sagte: »Die Vangs
werden bald aus ihrem Restaurant zurückkehren.«
»Ja.«
»Was glaubst du, wer das im Keller
ist?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Ich sollte um Erlaubnis bitten, ihn zu
sehen. Vielleicht kann ich ihn identifizieren.«
Ich sagte nichts. Ich war müde und
mußte mich wappnen für das, was vor uns lag.
Die uniformierten Beamten kamen zurück,
gefolgt von einem anderen Streifenpolizisten. Zwei von ihnen gingen durch die
Feuertür und fingen an, an die Türen der Wohnungen zu klopfen, die von diesem
Flur abgingen. Der andere blieb stehen und beobachtete Carolyn und mich. Bald
würden die Leute von der Spurensicherung eintreffen und der
Gerichtsmediziner...
Ich schaute zur Tür hinüber und
richtete mich dann weiter auf, starrte auf den großen Kriminalbeamten, der
gerade eingetreten war. Es war mein früherer Freund, Lieutenant Gregory Marcus.
Und zum ersten Mal seit anderthalb Jahren, seit dem Tag, an dem wir uns
getrennt hatten, war ich wirklich froh, ihn zu sehen.
ACHTES
KAPITEL
Es war bereits nach ein Uhr nachts, als
ich das Lagerhaus in der Nähe der Third Street betrat, in dem Don einen
Speicher bewohnte. Ich eilte den Korridor entlang, meine Schritte hallten von
den Wänden wider, kam an einem Tanzstudio vorbei, an einem Atelier für
Metallskulpturen, und schob schließlich meinen Schlüssel in eine Tür, die mit
einem einzelnen goldenen Stern geschmückt war — Dons Zugeständnis an die
Weihnachtszeit. Der höhlenartige Raum auf der anderen Seite war dunkel, und ich
schaltete Spotlights an der Decke an, die ein kleines Klavier, ein Schlagzeug
und drei Wände mit Stereoanlage, Platten und Büchern
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