Neun Tage Koenigin
Gesindeklatsch in die Gemächer der Tochter meines Arbeitgebers weitertragen. Mrs Ellen hätte mir den Kopf abgerissen, wenn ihr so etwas zu Ohren gekommen wäre. Und auch meine eigene Mutter hätte das getan, wenn sie davon erfahren hätte. Ich war die Tochter eines Herrenschneiders und kein Waschweib.
Außerdem machte ich mir Gedanken über das, was die Haushälterin gesagt hatte. Die Hoffnungen auf eine gute Partie für Jane waren ganz und gar auf den Herrscher Englands gerichtet gewesen. Und jetzt zog ihr Vater den Sohn eines Herzogs in Betracht, dessen politischer Absturz ihn erst kürzlich in den Tower gebracht hatte.
Wie viel von all dem wusste Jane? Und wie viel musste sie wissen?
Ich wollte nicht auf mein Zimmer zurückgehen, jetzt nicht allein sein mit all diesen Gedanken, die mir durch den Kopf gingen. Das Zwielicht der Abenddämmerung, das im englischen Sommer immer besonders lange anhält, lockte mich hinaus in den Garten.
Die Hitze des Tages war gewichen, und der Abendgesang der Vögel erfüllte den purpurnen Dunstschleier der herannahenden Nacht. Tief atmete ich die nach Lavendel und Rosen duftende Luft ein, und die Schönheit der anbrechenden Nacht beruhigte mich. Ich ging eine Steintreppe hinunter an den Rand eines Reflexionsbeckens. Der aufgehende Mond begann sich auf der Oberfläche des Beckens zu spiegeln, und ich sang ganz leise ein altes walisisches Wiegenlied, das mir meine Mutter früher immer vorgesungen hatte.
An einem lauschigen Sommerabend wie diesem vermisste ich mein Elternhaus und mein Heimatdorf Haversfield besonders. Ich hatte meine Eltern das letzte Mal zu Weihnachten besucht, und da auch nur für ein paar Tage, weil man sich in Adelskreisen die kalten Wintermonate durch zahlreiche Festlichkeiten erträglich machte. Und solche Feste erforderten ständig neue Kleider, sodass ich in dieser Zeit des Jahres immer viel zu tun hatte. Meine Eltern, besonders mein Vater, waren immer sparsam gewesen, wenn es darum ging, meine Fähigkeiten zu loben, damit ich nicht stolz oder undankbar würde. Außerdem weckten sie dadurch den Wunsch in mir, mich der Gaben und Fähigkeiten, die mein Schöpfer mir gegeben hatte, als würdig zu erweisen. Immer, wenn ich meine Eltern sah, erinnerten sie mich auch daran, dass die Vorsehung mir eine sehr wichtige Stellung als Schneiderin von Lady Jane zugedacht hatte und dass ich immer loyal und dankbar sein müsse, nicht nur Lady Jane, sondern auch ihren Eltern gegenüber. Ich müsse versuchen, in meinem gesamten Umgang mit der adligen Familie Gott zu gefallen.
Das Wiegenlied, das ich sang, und die Sehnsucht nach meiner Mutter und meinem Vater bewirkten, dass mir die Tränen kamen, und ich merkte, dass ich nicht weitersingen konnte. Die Melodie erstarb mir auf den Lippen, und für einen Augenblick war es völlig still um mich. Und dann ertönte plötzlich die Stimme eines Mannes.
„Ich wünschte, Ihr würdet weitersingen.“
Ich stolperte seitwärts und drehte mich mit einem Ruck um. Hinter mir auf einer Bank saß ein junger Mann, der die glänzende Oberfläche des Teiches betrachtete. Er hatte ein Buch auf dem Schoß, das aber zugeschlagen war. Im schwindenden Licht des Tages sah ich, dass er eine dunkle Jacke trug und ein weißes Rüschenhemd. Er war nicht von Adel, aber ein Gärtner oder sonstiger Bediensteter war er auch nicht.
Er sprang von der Bank auf, um mich zu stützen, damit ich nicht fiel, nachdem ich mich so erschrocken hatte.
„Ich bitte um Vergebung!“, rief er aus. „Ich wollte Euch nicht erschrecken, Miss.“
„Ich-ich habe Euch gar nicht bemerkt!“, stammelte ich, als er seinen Arm auf meinen legte, um mich zu stützen.
„Bitte vergebt mir. Ist alles in Ordnung?“
„Ja. Ja, natürlich.“ Mein Blick fiel auf seine Hand, die auf meinem Arm lag, und er ließ sie augenblicklich sinken.
„Ich bitte Euch ein weiteres Mal um Vergebung. Ich war einfach so begeistert von Eurer kleinen Melodie. Ich habe sie seit meiner Kindheit nicht mehr gehört. Meine Großmutter hat mir dieses Lied immer als Schlaflied vorgesungen.“
Seine Stimme war freundlich, und es schien ihm ehrlich leidzutun, dass er mich so erschreckt hatte. Er war etwa zwanzig Jahre alt, hatte dunkelbraunes Haar, dunkle Augen und drückte sich gebildet aus.
„Ja, ich …“ Ich merkte, dass ich meinen Blick nicht von ihm abwenden konnte, merkte, wie ich errötete, und war froh, dass er es in der Dämmerung nicht sehen konnte. „Guten Abend.“ Ich trat einen Schritt
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