Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
verurteilt. Keine Wälle, keine Mauern, keine Tore konnten den Feind, der über uns g e kommen war, einsperren oder fernhalten. Die Meldungen von neuen Erkrankungen in der Stadt überschlugen sich, noch bevor der erste Tag nach der Wintersonnenwende vorbei war. Wie in der Akademie, so war es auch in der Stadt: Die Personen, die die Schaubude besucht hatten, waren die Ersten, die an der Seuche erkrankten. Aber sie übertrugen sie rasch auf ihre Verwandten und Pfleger, und von dort aus sprang sie weiter auf Außenstehende über. Familien wie die von Gord, d ie die Stadt über die Feiertage verlassen hatten, hörten die Nachricht und bli e ben, wo sie waren. Familien, die in er Stadt festsaßen, verrammelten die Türen ihrer Häuser und warteten dri n nen, in der verzweifelten Hoffnung, dass die Seuche nicht schon in ihre Häuser eingedrungen war. Der Zirkus und die Schaubude wurden aus der Stadt verbannt, aber die Fleck waren ohnehin längst spurlos verschwunden. Ihr Wärter wurde tot aufgefunden, erstickt an seinem e i genen Stachelstock, den man ihm in den Schlund g e rammt hatte.
Zwei Tage nachdem es mich erwischt hatte, brandete die zweite Erkrankungswelle durch die Akademie. Das Krankenrevier platzte aus allen Nähten. Es gab nicht g e nügend Betten für die Leidenden, nicht genügend Bet t wäsche, nicht genügend Medikamente, nicht genügend Krankenwärter. Der Doktor und seine Gehilfen taten, was sie konnten, um die Kadetten zu versorgen, die in ihren Wohnheimen darniederlagen. Es gab so gut wie keine Hilfe von außen, weil die Fleckseuche längst in der Stadt wütete, und alle Ärzte, die sich trauten, die E r krankten zu behandeln, hatten weit mehr zu tun, als sie bewältigen konnten.
Zu der Zeit wusste ich von alldem natürlich nichts. Am zweiten Tag nach meiner Erkrankung wurde ich in ein Bett im Krankenrevier verlegt und blieb dort. »Viel, viel Wasser und viel Schlaf«, war Doktor Amicas’ erster Rat. Er war ein alter Soldat und wusste sehr wohl, was er zu tun hatte, noch bevor irgendein Befehl von oben zu ihm durchdrang. Er erkannte die Seuche und behandelte sie vom ersten Moment an als solche.
Er hatte Fälle von Fleckseuche gesehen und hatte sich sogar selbst infiziert, als er in Gettys stationiert gewesen war. Zum Glück war die Krankheit bei ihm relativ glimpflich verlaufen. Ausgehend auf seinen Erfahrungen mit der Krankheit, tat Doktor Amicas sein Bestes. Seine erste Empfehlung, dass wir so viel Wasser wie möglich tranken, war jedenfalls nicht die schlechteste gewesen. Keine Medizin hatte sich jemals als wirksam gegen die Fleckseuche erwiesen. Das beste Gegenmittel war eine gute körperliche Konstitution. Die Symptome, so schlicht sie waren, verlangten dem Körper alles ab: Erbrechen, Durchfall und Fieber, das in einem fort kam und ging. Tagsüber stellte sich oft eine scheinbare leichte Bess e rung ein, doch in der Nacht stieg das Fieber dann wieder. Keiner von uns konnte Nahrung oder Wasser bei sich behalten. Ich lag auf meiner schmalen Koje und taumelte hin und her zwischen Schlafen und Wachen. Manchmal, wenn ich aus meinem Dämmerzustand erwachte, w ar der Raum hell, dann wieder war er dunkel. Ich verlor jedes Zeitgefühl. Jeder Muskel in meinem Körper tat mir weh, und mein Kopf pochte vor Schmerzen. Einmal glühte ich innerlich, dann wieder zitterte ich vor Kälte. Ich hatte ständig Durst, ganz gleich, wie viel ich trank. Wenn ich die Augen aufschlug, hatte ich das Gefühl, als würde das Licht sie geradezu überfluten; wenn ich sie schloss, hatte ich Angst, in Fieberträume wegzugleiten. Meine Lippen und meine Nasenlöcher waren rau und aufgesprungen. Ich konnte in nichts Trost oder Linderung finden.
Als ich in das Krankenrevier eingeliefert wurde, lag Oron in dem Bett links von mir. Als ich das nächste Mal aufwachte, war er fort, und Spink lag darin. Nate lag in dem Bett zu meiner Rechten. Wir waren zu schwach, um miteinander zu sprechen; ich konnte ihnen nicht einmal von meiner unehrenhaften Entlassung erzählen oder d a von, dass sie ebenfalls in Kürze ausgesondert werden würden. Ich schwankte hin und her zwischen Träumen, die zu wirklichkeitsnah waren, um erholsam zu sein, und einer albtraumhaften Realität aus üblen Gerüchen, stö h nenden Kadetten und nacktem Elend. Ich träumte, dass ich vor meinem Vater stand und dass er mir nicht glau b te, dass die Beschuldigungen, die gegen mich vorg e bracht wurden, falsch waren. Ich träumte, dass mein O n kel und Epiny mich
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