Nixenmagier
Conor vor.
Der Delfin ist so groß und hilflos. Ein neuerlicher Gewitterschauer geht auf uns nieder und das Brüllen der Brandung ist plötzlich sehr laut geworden. Doch die schäumenden Wellen sind noch zu weit entfernt, um ihr zu helfen. Keine weiteren Lichter bewegen sich auf den Strand zu. Keine Hilfe in Sicht. Rainbow kommt mit ihrem Eimer zurück und gießt das Meerwasser vorsichtig über den Rücken des Delfins, ohne dass etwas davon in das Blasloch gelangt.
Dann läuft sie mit dem leeren Eimer zum Meer zurück. Gefällt dem Delfinweibchen das Salzwasser? Ja, ich glaube, es beruhigt sie. Aber es quält sie auch. Es riecht heimisch und fühlt sich auch so an. Ihre Heimat ist in Sichtweite, könnte jedoch genauso gut 100 Meilen entfernt sein. Sie ist zu keiner Bewegung in der Lage. Ich bin so bedrückt, dass ich schreien könnte. Die Flut steigt, doch nicht schnell genug, um sie zu retten.
Es wird nicht mehr lange dauern, bis das Wasser hier so tief ist, dass es mich nicht mehr auf den Beinen hält. Vermutlich in weniger als einer Stunde. Dann wird das Wasser sie forttragen. Doch vielleicht ist sie dann schon tot.
Sie ist so allein. In ihrem Innern ruft sie nach den anderen Delfinen ihrer Herde. Doch die sind irgendwo im dunklen Wasser und können sie nicht hören. Auch sie rufen verzweifelt nach ihr und versuchen herauszufinden, wo sie ist, aber die Luft verschluckt ihre Stimmen. Sie fürchtet sich davor, allein zu sterben, außerhalb des Wassers, unter Fremden.
»Du bist nicht allein«, flüstere ich ihr zu. »Ich bleibe bei dir, was auch geschieht.«
Ich beuge mich näher zu ihr. Sie will, dass ich sie berühre. Sie erträgt die Berührung mit dem rauen Sand nicht, in dem sie immer tiefer versinkt. Roger sagt, dass ihr Körpergewicht die inneren Organe zerquetschen kann. Also ihr Herz, ihre Leber, ihre Lungen, all ihre lebenswichtigen Bestandteile. Der Gedanke daran, wie ihr Herz langsam zerdrückt wird, lässt mich schaudern.
»Es tut mir so leid, so schrecklich leid.«
Rainbow ist zurück. Sie schüttet das Meerwasser über den Rücken des Delfins und kniet sich dann neben mich. Die Anspannung und Angst des Delfinweibchens schwellen
an wie die Flut. Sie kennt Rainbow nicht. Rainbow gehört zur Erde und ist eine Bedrohung.
»Du, Rainbow …«, beginne ich verlegen, weil ich nicht sicher bin, ob sie mich verstehen oder tief gekränkt sein wird. »Der Delfin … ich glaube, es ist ihr zu viel, wenn wir beide hier sind. Sie versteht nicht, dass du versuchst, ihr zu helfen.«
»Ich will das alles auch gar nicht«, entgegnet Rainbow, indem sie aufsteht. Ihre Stimme ist voller Schmerz. »Es ist schrecklich, sie so leiden zu sehen, und wir können nichts für sie tun. Ich wünschte … ich wünschte, es wäre alles vorbei. «
»Sag das nicht! Hol noch mehr Wasser.«
Roger und Will sind auch am Wasser und füllen Eimer. Rainbow wischt sich die Hände an ihrer Jeans ab und greift erneut nach ihrem Eimer. Dann, als könnte sie meine Gedanken lesen: »Sag ihr, es tut mir leid.«
Mal und die anderen Jungen heben einen Graben im Sand aus, damit die steigende Flut den Delfin so schnell wie nur möglich erreicht. Soll ich ihnen helfen? Ich überlege es mir in aller Eile und fasse meinen Entschluss. Das Delfinweibchen kann den Graben gut gebrauchen, aber der Schock und die Angst sind momentan ihre größte Bedrohung. Ich bin sicher – fast sicher –, dass ich ihr helfen kann.
»Was tust du da?«, spricht Conor leise in mein Ohr.
»Sie hat so große Angst, Con. »Sie stirbt daran, noch ehe die Flut sie erreicht.«
»Roger sagt, du sollst sie nicht anfassen.«
Doch in Anbetracht ihrer verzweifelten Not macht sich mein Mer-Blut immer stärker bemerkbar. Indigo entfaltet heute seine ganze Kraft in mir. Ich weiß es. Die Berührung
meiner Hand ist jetzt die Berührung einer Mer, salzig und beruhigend. Ich bin sicher, dass ihre Qualen unter meiner Hand ein wenig erträglicher werden. Aber das wird nicht ausreichen, um sie zu retten. Wenn doch nur das Meerwasser bald da wäre. Wenn Indigo seiner Tochter doch nur zu Hilfe käme. Ich spähe durch die Dunkelheit, der hellen Linie des Schaums entgegen, die das Vorwärtsdrängen der Flut kennzeichnet. Von ganzem Herzen wünsche ich Indigo herbei. Von ganzem Herzen wünsche ich Indigo herbei.
Ich schlinge meine Arme um das Delfinweibchen. Fühle die langsamen, tiefen Schläge ihres Herzens. Ihr Blick im Schein der Laterne ist schmerzerfüllt. Sie darf nicht sterben.
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