nmp08
Sie hat Brot für die Vögel gedreht, weil diese Leute ihren
Beruf im Blut haben. Sie können einfach nicht nein sagen. Aber Lucie Ponceau
fragt sich die ganze Zeit — krankhaft, ich geb’s zu — , ob sie keinen Fehler gemacht hat, ob sie nicht besser in der Versenkung
geblieben wär. Alle erzählen ihr vor, sie sei wunderbar. Aber sie ist zu lange
im Geschäft, um nicht zu wissen, daß man nicht immer alles glauben darf, was
einem die Leute erzählen. Und selbst angenommen, ihr Comeback gelingt mit
diesem Film: wird sie mit dem Erfolg Schritt halten können? Denn es werden
weitere Engagements auf sie zukommen, zwangsläufig. Und vielleicht ist sie ja
gar nicht so gut, wie alle meinen. Heutzutage sind wir daran gewöhnt, daß
Schauspielerinnen mit dem Hintern ihr Geld verdienen. Wenn sie damit wackeln,
nur um einen Zehn-Zeilen-Text aufzusagen, nennt man sie gleich hochtalentiert.
Unser Urteilsvermögen ist zum Teufel. Ihrs vielleicht nicht, geschärft wie nie.
Ich weiß nicht... die Idee ist mir nur so gekommen. Mit anderen Worten: ihr ist
alles lieber, als endgültig baden zu gehen, nachdem sie wieder so weit oben
war. An der Premiere im Ruban-Bleu nimmt sie nicht teil. Sie bleibt zu
Hause, heimlich, still und leise, eine nette alte Dame, mitten in ihren
Erinnerungen. Und in einer letzten theatralischen Geste, genau zu der Zeit, als
die Vorführung beginnt...“
„Genug geredet“, unterbrach
mich Faraux. „Hab ich doch gesagt: völlig verrückt. Ihre Meinung, Doktor?“
„Über die Theorie von
Monsieur?“ fragte der Arzt lächelnd. „Das ist Psychologie. Vielleicht stimmt’s?
Vielleicht ist es nur Blabla?“
„Kopfarbeit, mein Lieber“,
sagte ich. „Was anderes, Faroux...“
„Nur zu“, knurrte der
Kommissar. „Nach der Selbstmordthese beweisen Sie uns jetzt sicher glasklar,
daß ein Sadist die arme Frau zerstückelt hat.“
„So weit würde ich nun doch
nicht gehen. Aber nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, daß Mademoiselle Ponceau
eine ungewöhnliche Menge Rauschgift zu Hause hatte, selbst für jemanden, der
sich so richtig den Magen verderben will. Wenn die Autopsie ergibt, daß sie
nicht rauschgiftsüchtig war — was eine Erklärung für das Opiumlager sein könnte
dann ist es klar, daß es ihr jemand besorgt hat. Eine schöne Drecksau, dieser
Jemand, so ganz nebenbei gesagt...“
Ich sah in Großaufnahme vor
mir, wie Faroux seinen Mund sperrangelweit aufriß und ihn dann wieder
zuklappte.
„Tja“, zischte er.
„Jetzt sind Sie dran mit
Kopfarbeit“, sagte ich.
* * *
Bevor der Kommissar Anweisungen
gab, die Leiche abzutransportieren, ließ er routinemäßig noch überall rumschnüffeln.
Dabei kam noch ein drittes Album zum Vorschein, vollgestopft mit Fotos von
jungen Männern, die meisten mit zärtlicher Widmung.
„Manche mögen’s jung“, bemerkte
der Kommissar.
„Kommt drauf an, wann die Fotos
gemacht worden sind“, sagte ich. „Vielleicht haben die heute alle schon einen
langen weißen Bart.“
In diesem Augenblick drang Lärm
aus dem Erdgeschoß zu uns. Wir eilten aus dem Sterbezimmer.
„Was ist los?“ rief Faroux und
beugte sich übers Geländer.
„Hausangestellte und Leute vom
Film“, erklärte der Inspektor unten. „Behaupten sie.“
„Ich komm runter.“
Ich ging ebenfalls nach unten.
In der Eingangshalle standen außer Marc Covet und den Hütern des Gesetzes sechs
verwirrte Personen. Die drei Kerle in Smoking waren Sammy Bochra, Produzent von Brot für die Vögel, Jacques Dorly, Regisseur, und sein Erster Assistent
Norbert, der Mann, der eben am Telefon so oft Cambronne zu
Hilfe gerufen hatte . Dabei wäre das, wofür er bei den Dreharbeiten zu
sorgen hatte, eher am Platze gewesen: Ruhe und Frieden. Das Trio wurde von
einer langen Bohnenstange begleitet. Flache Schuhe, flache Brust, glatte Haare.
Sah aus wie’n Skriptgirl. War auch eins. Hinter der
Künstlerriege standen zwei nette alte Leute im Sonntagsstaat. Sie gaben an, das
Ehepaar Baldi zu sein, Hausangestellte von Mademoiselle Ponceau.
„Was ist denn passiert?“
erkundigte sich Jacques Dorly, leicht beunruhigt.
„Nichts Besonderes“, bemerkte
der brutale Kommissar trocken. „Mademoiselle Ponceau hat Selbstmord begangen.“
Das Filmteam, männlich wie
weiblich, fluchte lautstark vor sich hin. Neorealistische Flüche, die kein um
seine Zukunft besorgter Dialogschreiber verwendet hätte, aus Furcht vor der
Zensur. Die beiden netten Alten stießen nur einen leisen Seufzer aus.
Faroux
Weitere Kostenlose Bücher