Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
Sara an ihrer Seite zu haben. Aber noch nie waren ihr die Stadt und dieses Büro so nerv tötend vorgekommen. Meckre nicht , beschwor sich Sara. Du hast eine schöne Wohnung, eine nette Arbeit, einen vollen Küh l schrank und eine funktionierende He i zung. Ergo keinen Grund, herumzumaulen . Das solltest du nach deiner Reise in die bittere Wah r heit eigentlich wissen.
Ja, sie hatte alles. Das stimmte. Außer Zeit. In den Great Plains war sie ohne Uhr ausgekommen. Manchmal hatte sie nicht einmal gewusst, welcher Wochentag war. Ein paradiesischer Zustand, der ihr furchtbar fehlte. Auch ihr geliebter Starbucks White Caffé Mocha änderte nichts an der depressiven Verstimmung.
„Ich versteh schon.“ Ihre Worte klangen wie ein lang gezogener Seu f zer. „Aber das Besondere findet man nicht immer. Es ist Glückssache.“
„Und dieser Glückssache hilft man auf die Sprünge, zur Not mit einer abgesägten Schrotflinte.“ Ruth schüttelte den Kopf, wobei ihre blondg e lockte Mähne den Eindruck erweckte, als wollten sich alle Haare zugleich in sämtliche Himmelsrichtungen zerstreuen. „Du bist doch sonst so kreativ.“
Sara grummelte in ihren Caffé Mocha hinein. Sonst noch irgendwelche Luxusprobleme? Ach Mist, sie wollte zu ihrer alten Form zurückfinden, aber während sich ihr Körper in New York befand, schwebte ihr Geist noch ganz woanders herum und weigerte sich beharrlich, hierher z u rückzukehren.
Sie hatte nicht die Armut gesehen, nicht die heruntergekommenen Häuser , die Müllhalden, den Uran a bbau oder die gammeligen Trailer . Sondern Menschen, die in ihrem Unglück z u sammenhielten und in ihrer Lebensart etwas ausstrahlten, das sie berüh r te. Alles, was sie sich vor ihrer Reise ausgemalt hatte, war als nicht haltb a res Vorurteil enttarnt worden. Keine Säufer und arbeitsscheue Steuerschlucker hatten sie em p fangen, sondern Akrobaten, die sich in einem Balanceakt zwischen M o derne und Vergangenheit versuchten und von zahllosen Fesseln behi n dert wu r den.
Ruth hingegen war oberflächlich wie viele andere Menschen in dieser Stadt. Vor d er Reise war ihr das nicht aufgefallen, vielmehr hatte sie selbst gern an der Oberflächlichkeit teilgenommen. Aber jetzt waren die Dinge in ein anderes Licht gerückt worden. Das E inzige, was ihre Chefin noch mehr interessierte als der Profit ihres Verlages, waren Kleider und Schuhe von namhaften Designern, die sie höchstens zweimal trug und anschließend in einem ihrer zahllosen Schränken zu Grabe trug.
„Wie kamst du eigentlich auf die Idee zu dem Bildband?“ , fragte sie. „War es deine eigene?“
„Nein.“
Genau diese Antwort hatte Sara erwartet.
„Aber den Finger in eine Wunde zu bohren, die die meisten Menschen ignorieren, wühlt auf. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf uns. Ich habe schon mehrere dicke Fische geangelt, die uns nach Veröffentlichung des Bildbandes den Bauch pinseln werden.“
„Aha.“ Wir spielen also ein bisschen Gutmensch, um das Image zu p o lieren. Sara musterte Ruths mauvefarbenes Etuikleid. Vermutlich hatte es so viel gekostet wie ein Kleinwagen. Von ihren High Heels ganz zu schweigen. Im Widerspruch dazu kämpften in den Reservaten und Slums dieses Landes tagtäglich Menschen ums nackte Überleben. Wil l kommen bei Sex and the City. Ob diese Frau wahrgenommen hatte, wie viel Elend viele von Saras Fotos zeigten?
„Das ist noch nicht alles.“ Ruth deutete auf den Beamer. „Fünf un d zwanzig Bi l der kommen noch.“
Saras Daumen ruhte auf dem Knopf. Ja, sie hatte noch fünf undzwa n zig Bilder. Die besten Aufnahmen von Makah , die sie aus einem Berg an Fotos ausgewählt hatte . Aber der Gedanke, sie ihrer Chefin zu zeigen, bereitete ihr Magenschmerzen. Es waren ganz spezielle Erinn e rungen. Intime Zeugnisse von Momenten, deren Intensität ihr im Nac h hinein noch rätselhafter e r schien. Unvermittelt bereute sie es, die Fotos auf dem Apparat gelassen zu haben.
Die Bilder, die dein Schicksal sind.
Sie gelingen dir nur einmal und dann nie wi e der.
Hinter den Glaswänden des Verlagsgebäudes rauschte der Verkehr. Wo mochte Makah jetzt sein? Und warum zum Teufel kreisten all ihre Gedanken um einen Mann, mit dem sie gerade mal eine Stunde ve r bracht hatte?
„Sara?“ Ruth bearbeitete den Tisch mit ihren manikürten Fingern ä geln, die die Ausmaße von Adlerkrallen besaßen. „Komm schon. Du bist nicht mehr im Urlaub. Die Realität hat dich wieder. Also raus aus deinem Wolkenkucku ck sheim .“
Sie seufzte und
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