Nur wenn du mir vertraust - Crombie, D: Nur wenn du mir vertraust - Now May You Weep
Waggontüren drängten. Nach kurzer Zeit sah sie Kincaid aus dem letzten Wagen steigen. Er war einen Kopf größer als seine Mitreisenden, und sein widerspenstiges rotbraunes Haar fiel ihm in die Stirn. Er trug seine abgestoßene braune Lieblingslederjacke und hatte eine Reisetasche in der Hand.
Ein breites Grinsen erhellte sein Gesicht, als er sie in der Menge entdeckte, und kurz darauf stand er schon vor ihr. Er ließ die Tasche fallen und schloss sie in die Arme. Sie schmiegte ihr Gesicht an seine vertraute Schulterbeuge.
Einen Augenblick lang genoss sie einfach nur die beruhigende Nähe seines Körpers und atmete den Duft seines Pimentöl-Rasierwassers ein, vermischt mit dem Ledergeruch der Jacke.
»Hallo, Schatz«, murmelte er in ihre Haare. Seine Stimme war zärtlich. »Ich kann dich aber auch nicht mal ein paar Tage aus den Augen lassen, ohne dass du gleich in irgendwelche Schwierigkeiten gerätst, wie?«
14. Kapitel
Im Leben ruft oft ein Ding die Vorstellung von einem anderen hervor; jedes Ereignis, jeder Ort hat seinen Platz in unserer Fantasie.
Robert Louis Stevenson
»Eine Plauderei über die Romankunst«
»Nun ja, einen gewissen verwegenen Charme kann man der Ecke hier nicht absprechen«, bemerkte Kincaid, als er mit Gemma die Hauptstraße von Aviemore entlangging. Sein Blick wanderte von den Skigeschäften und Cafés hinaus zu der eindrucksvollen Kulisse der Berge, die auch jetzt im Spätfrühling noch recht abschreckend aussahen. Er war als Kind öfter in Schottland gewesen, auf Besuch bei der Kincaid-Verwandtschaft in Strathclyde, und einmal hatte er eine unvergessliche Tour nach Oban und auf die Isle of Skye unternommen, aber diesen Teil der Highlands kannte er noch nicht.
»Mit der Zeit findet man Geschmack daran«, stimmte Gemma zu, doch das Lächeln schien sie Mühe zu kosten. Es fiel ihm auf, dass ihre Sommersprossen sich deutlich von der blassen Gesichtshaut abhoben – stets ein Zeichen, dass sie erschöpft war oder unter Stress stand.
»Du hast mir gefehlt«, sagte er und legte ihr den Arm um die Schultern, um sie an sich zu drücken. »Wie geht es Hazel?«
»In Anbetracht der Umstände hält sie sich ganz tapfer. Hast du noch mal mit Tim gesprochen?«
»Ich habe immer wieder versucht, ihn zu erreichen, seit ich heute Morgen in den Zug gestiegen bin, und Cullen habe ich auch schon vorbeigeschickt. Aber er geht weder ans Telefon, noch macht er die Tür auf. Ich habe mit seiner Mutter gesprochen – sie haben auch nichts mehr von ihm gehört, seit sie Holly gestern Abend abgeholt haben.«
»Was treibt er bloß für ein Spiel?«, fragte Gemma, und er spürte, wie sich ihre Schultermuskeln unter seinem Arm anspannten. »Wir werden mit Ross sprechen müssen, so ungern ich das auch tue.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss immer wieder an die vielen Stunden denken, die wir vier schon miteinander verbracht haben. Tim ist doch unser
Freund
–«
»Noch ein Grund, weshalb wir die Finger von dem Fall lassen sollten«, sagte Kincaid mit einer Entschiedenheit, die seine eigenen Zweifel überdeckte. »Lassen wir die Londoner Kollegen –«
»Glaubst du, dass mit ihm alles in Ordnung ist?« Gemma blieb stehen und drehte sich zu ihm um, sodass sich der Strom der Fußgänger auf dem Gehsteig hinter ihnen staute. »Meinst du, er hat vielleicht – ich habe noch einen Schlüssel vom Haus… Ich hätte doch zurückfahren sollen. Wenn er nun –«
»Gemma, du kannst nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Ich bin sicher, dass Tim absolut nichts fehlt.« Kincaid sprach die Befürchtungen nicht aus, die er schon seit dem gestrigen Abend vergeblich zu verdrängen suchte. »Aber wir können ja dem Inspector hier vorschlagen, dass er die Kollegen in London bittet, zwei Streifenbeamte vorbeizuschicken, um nach dem Rechten zu sehen, falls sie nicht gleich die Kripo auf ihn ansetzen wollen. Also, wo finden wir denn nun diesen Drachen von einem Chief Inspector?«
»Das Polizeirevier ist gleich hinter dem Parkplatz. Deine Tasche können wir vorher noch im Auto verstauen.« Nach wenigen Metern bogen sie schon in den Parkplatz ein, wo Gemma ihn zu dem schnittig aussehenden roten Honda führte und den Kofferraum öffnete. Sie hatte vorher noch die Zeit gefunden, die Mietdauer zu verlängern.
Kincaid hievte seine Tasche hinein, doch ehe er den Deckel zuklappte, hielt er inne. Mit einem Seitenblick auf Gemma öffnete er den Reißverschluss der Tasche und nahm ein Blatt Papier heraus. »Das soll ich dir von
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