Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
gefunden, sich zu verstecken … oder die Flucht zu ergreifen? Wie war es möglich, dass niemand wusste, wo er steckte? Wie lange konnte er das ohne Hilfe durchhalten?
Anstelle seiner Eltern hätte ich den ganzen Staat nach ihm abgesucht, und ich verstand ihre Passivität nicht. Aber da sie nichts taten, würde ich das eben übernehmen. Ich musste ihn einfach finden. Nicht nur, weil er die einzige Person war, die mir die nötigen Antworten liefern konnte, sondern auch, weil Justine nicht gewollt hätte, dass er elend und allein irgendwo herumstreunte.
Aber zuerst … Frühstück.
»Hier kommt das Essen, Honey«, sagte Louis und erschien mit einem runden Tablett, das mit Tellern und Schüsseln überladen war. »Arme Ritter mit Waldbeeren-Konfitüre, Müsli mit Honig, Eierauflauf, in Ahornsirup gebratener Schinken und frische Wassermelone.«
Mein Blick folgte seinem Finger, als er nacheinander auf jedes Gericht zeigte. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
»Hauptsache, du genießt es.« Er holte eine Minivase mit einem einzigen Gänseblümchen aus der Jackentasche, stellte sie ebenfalls auf mein Tablett und verschwand dann in Richtung Treppe. »Und stürz dich diesen Abend nicht zu sehr ins Vergnügen.«
Obwohl ich eigentlich langsam essen wollte, um mir jedenBissen auf der Zunge zergehen zu lassen und gleichzeitig den Aufbruch hinauszuzögern, war das Essen schon verschwunden, bevor ich auch nur merkte, dass meine Hungerkrämpfe nachließen. Erst als ich den übriggebliebenen Klecks Ahornsirup in der Mitte des Schinkentellers mit dem Finger aufwischte, stellte ich fest, dass ich auf dem Balkon nicht länger allein war. Drei junge Männer mit schwarzen Hosen und weißen T-Shirts hatten ihre Stühle nebeneinandergestellt, so dass sie die Nordseite der Marina überblicken konnten, tranken Kaffee und unterhielten sich.
»Ganz klar«, sagte der Blonde am Ende der Stuhlreihe, »das ist genau wie bei diesem Mädchen.«
Dieses Mädchen. Natürlich hätten die drei über absolut jeden sprechen können, aber ich wusste sofort, wer gemeint war. Dafür genügte schon der Tonfall des Blonden, als gehe es nicht um einen echten Menschen, sondern eine namenlose, gesichtslose TV-Figur, die von den Abendnachrichten durchgekaut und ausgespuckt worden war.
Justine.
»Keine Chance«, meinte der Mittlere. »Die Situation ist total anders.«
»Wieso?«, wollte der Dritte wissen. »Was soll daran anders sein?«
»Erstens war er alt und steinreich, dagegen war sie jung und bildschön, sah aus wie ein Model.«
Ich starrte auf den Sirupklecks, und die Hitze stieg mir ins Gesicht. Er war. Sie war.
»Zweitens ist er ertrunken, und sie ist an einem stumpfen Schlag auf den Kopf gestorben.«
Ich schluckte. Diese Formulierung hatte der Gerichtsmediziner benutzt, um die Todesursache zu beschreiben.
»Und vor allem ist er an Land gespült worden, nachdemsein Boot gekentert ist, und sie ist von einer Klippe gesprungen.«
Ich hielt den Atem an und wartete darauf, dass einer der anderen widersprechen würde. Sie ist nicht gesprungen, hörte ich mich innerlich betteln.
Sie ist gestürzt, oder sie wurde gestoßen. Jemand wie sie springt nicht einfach ohne Grund.
»Na und?«, hakte der Dritte nach.
»Wenn du das noch fragst, brauchst du echt mehr Kaffee. Bei ihm war es ein Unfall. Bei ihr war es Selbstmord.«
Ich ließ die Gabel fallen, die ich anscheinend noch in der Hand gehalten hatte. Sie landete klirrend auf dem Porzellan. »Tschuldigung«, sagte ich, als alle mich neugierig anstarrten.
»Um auf den Punkt zu kommen«, fuhr der Mittlere fort, nachdem sich alle wieder dem Meerblick zugewandt hatten, »wie ich bereits gesagt habe, war dieser Fall total anders.«
»Das kann mir keiner erzählen«, widersprach der Blonde. »Beide ertrinken im Meer, werden nur eine halbe Meile voneinander angespült, und das alles innerhalb von acht Tagen? Solche Zufälle gibt es nicht.«
»Und was soll sonst passiert sein? Ein psychopathischer Angler benutzt Leute als Köder? Winter Harbor probiert eine neue Werbestrategie für den Wettbewerb im Haiangeln?«
Der Blonde schüttelte den Kopf und starrte auf den Hafen hinaus. »Weiß ich auch nicht. Aber die Sache ist irgendwie unheimlich – und vermiest mir das Surfen, was ich echt nervig finde.«
»Ja, wenn du so steif wie dein Brett bist, ist das Wellenreiten ein Problem«, witzelte der Typ in der Mitte.
Zum Glück beendeten sie kurz danach ihre Kaffeepauseund verschwanden wieder die
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