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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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ihnen gar keinen Handschuh trug,
sondern eine künstliche Hand hatte. Sie erinnerte sich: Scorpio
hatte diese Hand noch eigens untersuchen lassen, um festzustellen, ob
sie nicht eine Antimateriebombe enthielt.
    »Letzte Warnung«, rief sie.
    Der zweite Adventist warf so etwas wie ein Messer nach ihr. Es
kreiselte durch die Luft; Cruz drückte sich flach gegen die
Wand. Die Waffe raste mit einem kurzen, scharfen Luftzug an ihrer
Kehle vorbei und bohrte sich daneben in das Schiff. Eine zweite Waffe
flog durch die Luft und streifte ihre Panzerung, ohne jedoch eine
Schwachstelle zu finden.
    »Das Spiel ist aus«, sagte Cruz und gab ihren Leuten ein
Zeichen. »Ruhig stellen. Nieder mit ihnen.«
    Sie hoben die Bajonette und die stumpfen Betäubungsstäbe
und stellten sich vor Cruz. Der Adventist deutete mit seiner
künstlichen Hand auf sie, als wollte er sie ermahnen. Sie dachte
sich nichts dabei: Scorpio hatte die Hand gründlich untersucht;
sie konnte keine Projektil- oder Strahlenwaffe enthalten.
    Die Spitze löste sich vom Zeigefinger, fiel aber nicht zu
Boden, sondern schwebte so langsam von der Hand weg wie ein
Raumschiff bei einem trägen Start.
    Cruz war wie vom Donner gerührt. Die Spitze wurde schneller
und legte, leicht auf und ab hüpfend, erst zehn, dann zwanzig
Zentimeter zurück. Anfangs flog sie geradewegs auf die Gruppe
zu, dann bewegte sich die Hand, und die Spitze wich nach rechts ab,
als wäre sie immer noch durch einen unsichtbaren Faden damit
verbunden.
    Was sie auch war.
    »Monofil-Sense« rief Cruz. »Zurück mit euch. Verdammt, tretet sofort zurück!«
    Ihre Leute reagierten schnell und traten den Rückzug an. Die
Fingerspitze beschrieb wie von selbst einen senkrechten Kreis,
während die Hand des Adventisten nur ganz kleine und scheinbar
mühelose Bewegungen machte. Der Kreis wurde größer,
die Fingerspitze verschwamm zu einem grauen Ring von einem Meter
Durchmesser. Orca Cruz hatte einst in Chasm City mit ansehen
müssen, was für Blutbäder man mit solchen Sensen
anrichten konnte. Sie hatte erlebt, was passierte, wenn jemand
versehentlich in eine Verteidigungslinie aus statischen Sensen geriet
oder von einer mobilen Sense wie dieser hier getroffen wurde. Es war
kein schöner Anblick. Aber mehr noch als die Schreie, mehr noch
als die grässlich verstümmelten und zerstückelten
Leichen waren ihr die Gesichter der Opfer in Erinnerung geblieben,
unmittelbar nachdem sie ihren Fehler erkannt hatten. Was sich darin
spiegelte, war weniger Angst oder Schock als tödliche
Verlegenheit: die Erkenntnis, dass sie gleich ein schreckliches,
zutiefst abstoßendes Bild abgeben würden.
    »Zurück!«, wiederholte sie.
    »Feuererlaubnis?«, fragte einer der SD-Leute.
    Cruz schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, sagte sie.
»Erst wenn wir mit dem Rücken zur Wand stehen.«
    Der flimmernde graue Ring rückte weiter vor und erzeugte
dabei einen hohen, zitternden Ton, der fast melodisch war.
     
    Scorpio verlagerte sein Gewicht, so weit es ging, und versuchte
noch einmal, sich von der Wand zu lösen. Um Hilfe zu rufen,
hatte er aufgegeben, und auf sein eigenes Fiepen und Japsen achtete
er schon lange nicht mehr. Die adventistischen Delegierten waren
nicht zurückgekommen, aber sie waren immer noch unterwegs: Hin
und wieder drang der Lärm von Kämpfen durch das Labyrinth
von Korridoren, Lüftungskanälen und Fahrstuhlschächten
gedämpft bis zu ihm. Er hörte Stimmen und Schreie, und
gelegentlich reagierte das Schiff selbst mit tiefem Stöhnen auf
eine kleine innere Verletzung. Was die Delegierten – ob mit
ihren Schneidewerkzeugen oder ihren Flammenwerfern –
anrichteten, konnte dem Captain nicht wirklich schaden. Die Sehnsucht nach Unendlichkeit hatte immerhin einen
Direktangriff durch eines ihrer eigenen Weltraumgeschütze
überlebt. Doch selbst ein winziger Splitter konnte zu einem
Ärgernis werden, das in keinem Verhältnis zu seiner
physischen Größe stand.
    Wieder schlug Scorpio um sich. Ein Feuerstoß zuckte ihm
durch beide Schultern. Hatte sich jetzt nicht etwas bewegt? Er selbst
oder die Wurfwaffen?
    Beim nächsten Versuch wurde er ohnmächtig, und als er
Sekunden, vielleicht Minuten später wieder zu sich kam, hing er
immer noch an der Wand und hatte einen unangenehm metallischen
Geschmack im Mund. Er war noch am Leben und fühlte sich –
abgesehen von den Schmerzen – nicht viel schlechter als zu dem
Zeitpunkt, als Seyfarth ihn hier festgenagelt hatte. Vermutlich hatte
der Hauptmann mit seiner

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