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Ohne jede Spur

Ohne jede Spur

Titel: Ohne jede Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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die Sonnenblende herunter und musterte sich in deren Spiegel auf der Rückseite.
    Auf seinen tief liegenden Augen lagen dunkle Schatten. Er hatte sich nicht rasiert. Ein Feld aus dichten Stoppeln wucherte auf dem hageren Gesicht aus. Es sah müde undabgespannt aus, aber auch ein bisschen verrucht, vielleicht sogar gefährlich, wie ein Mann, der zu Wutanfällen neigte und seine Frau und Kinder schlug.
    Er probierte verschiedene Lippenstellungen aus, setzte mal die eine, mal die andere Miene auf. Trauernder Ehemann, schärfte er sich ein. Trauernder Ehemann.
    Seine Mutter hatte recht. Er konnte zwar seinem Gesicht einen anderen Ausdruck geben, aber der Blick blieb gleich. Sein Blick schien immer auf unendlich gerichtet.
    Er nahm sich vor, den Kopf zu senken. Gramgebeugt, so wollte er auftreten.
    Ree gähnte und streckte Arme und Beine aus. Sie sah ihn an, blickte auf Mr   Smith und dann durchs Seitenfenster nach draußen.
    Sie erkannte das Gebäude und richtete sich spontan auf. «Ist Mommy hier? Holen wir Mommy ab?»
    Er legte sich Worte zurecht. «Weißt du noch? Die Polizei hat geholfen, Mr   Smith zu finden.»
    «Äh-hm.»
    «Sie sucht auch nach Mommy. Und wir wollen ihr dabei helfen. Deshalb werden wir jetzt mit Mommys Freunden reden. Vielleicht haben die eine Ahnung, wo sie sein könnte.»
    «Mr   Smith ist von allein zurückgekommen», sagte Ree.
    «Richtig, und wenn wir Glück haben, kommt auch Mommy von allein zurück.»
    Ree nickte. Sie schien zufrieden. Es war das erste wirkliche Gespräch zwischen ihnen seit Sandys Verschwinden. Dass es so glatt verlief, hatte er selbst kaum erwartet.Er wusste um die starken Stimmungsumschwünge von Kindern. Ree war nach dem strapaziösen Vormittag erschöpft und leicht zu beruhigen. Später aber, wenn sie wieder von Trauer und Wut erfüllt sein würde   …
    Er stieg aus und hob Ree aus dem Kindersitz. Mr   Smith ließen sie mit den Zetteln, die vor Tollwut warnten, im Wagen zurück. Jason traute den Schülern ebenso wenig über den Weg wie den Straßengangs von Roxbury.
    Sie betraten das Sekretariat, Jason mit kummervoll gesenktem Haupt, Ree mit Lil’ Bunny im Arm.
    «Mr   Jones!», rief Adele, die Sekretärin. Der herzergreifende Klang ihrer Stimme und der auf Ree gerichtete mitleidvolle Blick trafen ihn wie ein Schlag in den Solarplexus, und für eine Weile stand er nur benommen da und spürte, wie ihm die Augen feucht wurden. Er musste nichts vortäuschen, denn in diesem Moment wurde Sandys Verschwinden für ihn zum ersten Mal nackte Wirklichkeit. Sie war fort und er, der trauernde Ehemann, allein mit seinem verstörten Kind.
    Ihm wurden die Knie weich. Sie drohten unter ihm wegzuknicken, als er auf den Linoleumboden starrte, über den Sandy an fünf Tagen in der Woche gegangen war.
    Bislang hatte niemand Mitgefühl gezeigt. Bislang war er allen mit Tricks und Ablenkungsmanövern zuvorgekommen, der Polizei, seinem Vorgesetzten oder dem perversen Nachbarn. Doch nun kam Adele hinter ihrem Schreibtisch hervor. Sie tätschelte ihm die Schulter und drückte voller Herzlichkeit seine Tochter an sich. Auf seine typische Art beschloss Jason in diesem Moment,Adele gegenüber auf der Hut zu sein. Ihr Mitgefühl war ihm zuwider. Es vertrug sich nicht mit seinen Ablenkungsmanövern.
    «Ich bin sicher, Phil wird mit Ihnen sprechen wollen», plapperte Adele drauflos. «Er hat gerade eine Besprechung. Tja, seit den Nachrichten heute Morgen steht das Telefon nicht mehr still. Wir haben uns schon darum gekümmert, dass die Schülerinnen und Schüler mit ihrer Trauer nicht allein sind und von einem Psychologen betreut werden. Um vier trifft sich das Kollegium, um zu beraten, wie es sich an der Suche beteiligen kann. Wir alle wollen helfen. Phil hat vorgeschlagen, dass wir die Turnhalle öffnen und auch die Öffentlichkeit einladen   –»
    Adele unterbrach sich plötzlich, als ihr bewusst wurde, dass sie vor dem Kind allzu viel preisgab. Immerhin reichte ihr Taktgefühl, um zu erröten und Ree ein weiteres Mal in den Arm zu nehmen.
    «Wenn Sie bitte einen Moment warten wollen», sagte sie. «Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wasser anbieten? Vielleicht ein paar Malstifte für Ree?»
    «Ich hatte eigentlich nur vor, mich kurz mit Mrs   Lizbet zu unterhalten. Nur für ein paar Minuten, wenn es möglich ist   …»
    «Natürlich, natürlich. In drei Minuten ist Mittagspause. Ich bin mir sicher, dass sie Zeit für Sie hat.»
    Jason mühte sich ein dankbares Lächeln

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