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Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)

Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)

Titel: Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schulz
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mangelt an Harmonie, mit der der Zufall Dagmars Ungeschick und Schock und Zittrigkeit zu kunstvoll dilettantischen Kameravolten veredelte wie in Clip 1/4. Keineswegs jedoch bleiben dem Betrachter die Eskalation und Dramatik – und der Schrecken, das Spektakuläre – der weiteren Ereignisse deswegen verborgen. Dagmar filmte und filmte. Sie fühlte entscheidend anders als Ellen, die von ihrer Furcht vor dem Geiselnehmer total absorbiert war.
    Furcht ist, im Gegensatz zur ungerichteten Angst, das Gefühl in bezug auf eine konkrete Bedrohung. Die Symptome entsprießen den normalen physiologischen Vorbereitungen eines Lebewesens, das unversehens mit der Alternative Kampf oder Flucht konfrontiert wird: Ellens Herz pumpte unter Volldampf; der Blutdruck war so hoch, daß ihr die Augen aus dem Kopf zu schießen drohten wie Sektkorken; und schwitzend schlotterte sie. Drehschwindel zwang sie zurück auf die Bank. Nicht, daß sie an ihre Freunde und Familie dachte – das kam erst später. Zunächst war sie nichts als vital funktionierender Leib, und über die Überbeanspruchung ihrer fünf Sinne hinaus nahm sie mit dem sechsten und siebten die vor Zerstörungskraft und Energie nahezu berstende Präsenz des Hünen wahr. Lähmende Präsenz. Ihr standen die Haare zu Berge wie unter einem Hochspannungsmasten bei Gewitter.
    Dagmar hingegen geriet in einen komplexen Schaltkreis psychischer Wechselwirkungen. Alles Mögliche mag dabei Triggerfunktionen erfüllt haben – vom Enduro-Sound und Eheproblemen über ihre sanfte und deshalb geheimgehaltene Bootsangst bis hin zum Kater vom Vorabend, als sie und Ellen (nach dem Besuch von Satan’s Soul ) nur so mit Dollhouse – Dollars um sich geworfen hatten. (Was sonst hätte das anschließende sündhaft teure Besäufnis in der Roswitha Bar der V-GIRLS – Location gerechtfertigt, wenn nicht die Sensation, wie bitterzart sich Yannicks Haut angefühlt hatte?)
    Ihre hohe psychische Stabilität in den weiteren dreiundvierzig Minuten entsprach dem Grad, in dem sie den Aggressor bejahte. (Vgl. Natascha Kampuschs Verdikt zum sog. ›Stockholm-Syndrom‹. O ja: Es bezeichnet kein ›Syndrom‹, sondern eine Überlebensstrategie.) Möglich, daß die Distanz zu ihm, die Dagmar via Kamera erzielte, ihre Unterwerfungsbereitschaft gar noch förderte. Gleichzeitig hatte sie beim Posing des Hünen intuitiv erfaßt, daß dieses Gerät als Unterpfand für ihre körperliche Unversehrtheit zu dienen vermochte.
    Klebte man Clip 2 direkt an Clip 1, wäre in der Chronologie der Ereignisse laut Laufzeiteinblendung ein Sprung von gerade mal zwei Sekunden zu verzeichnen. Zu Beginn von Clip 2 hat der bunte Riese zwar bereits den Dolch wieder sinken gelassen, mit dessen Klinge er zu Ende von Clip 1 noch sein Teufelshorn markiert, um Käpt’n Erich L.s Frage zu beantworten, was hier los sei. (Sowie offenbar jene loriotnudelhafte Cellophanhülle entfernt – zumindest haftet sie nicht mehr an der Klinge, sobald die das nächste Mal ins Bild kommt.) Doch setzt er sich zu Anfang von Clip 2 erst in Bewegung.
    Nämlich auf Schiffsführer L. zu. Grinst, nach kurzem Schielen in die Kamera, zahnlos und dickzungig unter seinem Kannibalenschmuck, nachdem er erfaßt hat, wie aufmerk- und folgsam Dagmar ihn passieren läßt. Trotz des zu diesem Zeitpunkt noch nicht gänzlich verdunsteten Wassertropfens auf der Linse erkennt man, daß er durchaus blinzeln kann: Geruhsam schließt er für zwei Sekunden die wimpernlosen Augenlider. Die jedoch mit den Abbildern seiner geöffneten Augen tätowiert sind, und dieses untote Zwinkern zählt seither zu den wiederkehrenden Elementen von Ellens Albträumen, ebenso wie etwa der Schlüsselanhänger.
    Dann gleitet der Schädel im zernarbten, sonderbar grindigen und mückenstichpickligen Profil an der Kamera vorbei, die ihn fortan von hinten zeigt. Unterhalb des Hirnpuzzles, in die Haut des muskulösen Genicks, ist eine Zielscheibe graviert, weiß eingefärbt die Ringfelder Eins bis Neun, tintenschwarz Zehn und Elf und knallrot der mittige Zwölferpunkt, der Volltreffer, genau auf dem dicksten Wirbel.
    Der Betrachter ahnt mehr, als daß er es sieht, wie der Hüne Käpt’n L. anhand der Krallen seiner Linken durch die geöffnete Tür in den Passagiersaal zurückschiebt. Die Kamera macht sichtlich Anstalten, ihm zu folgen.
    Daraufhin hört man einen kindlichen zweisilbigen Ruf, wahrscheinlich etwas wie »Daggi!« (ohne Untertitel). Er stammt von Ellen, die, wie sie später selbst

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